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Gewerkschafter Adrian Durtschi: Von Ghana bis Neuseeland

Patricia D'Incau

Adrian Durtschi (33) ist mit Leib und Seele Gewerkschafter. Um bei einem Pflegestreik zu helfen, reist er auch schon mal ans andere Ende der Welt.

RUND UM DEN GLOBUS. Adrian Durtschi (33) organisiert Pflegerinnen und Pfleger auf der ganzen Welt. (Fotos: Olivier Vogelsang)

Das kleine Büro liegt im dritten Stock eines modernen Betonblocks, fünf Gehminuten vom Bahnhof Nyon entfernt. Unter dem Fenster rattern die Züge. Auf dem Arbeitstisch stehen einsam ein Computer und ein Telefon. Nur selten werden sie benutzt. Denn wenig im Büro zu sein, das gehört zum Job von Adrian Durtschi. Unglücklich ist der 33jährige Berner Oberländer dar­über nicht: «Ein Schreibtischtäter zu werden, das wäre das Schlimmste für mich», sagt er und lacht.

Seit rund eineinhalb Jahren ist «Adi», wie ihn Freunde und Bekannte nennen, als internationaler Gewerkschafter unterwegs. Für UNI Global Union. Das ist der Gewerkschaftsbund, der Dienstleistungsgewerkschaften aus aller Welt unter einem Dach vereint. Auch die Unia ist Mitglied. 13 Sektoren deckt UNI ab: von Reinigung bis Sport, über Hollywoods Unterhaltungsindustrie bis hin zur Post. Und auch den privaten Pflegebereich.

Das ist Durtschis Revier. Als Direktor von Unicare leitet er diesen Sektor. 85 Gewerkschaften sind ihm angeschlossen, das sind fast zwei Millionen Pflegerinnen und Pfleger. Für sie verfolgt Adrian Durtschi eine klare Mission: Sich organisieren, stärker werden, den Unternehmen bessere Arbeitsbedingungen aufzwingen. Dafür ist er ständig auf Achse. «Am einen Tag bin ich in Ghana und trainiere Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter darin, Leute im Betrieb zu organisieren. Am anderen Tag bin ich in Neuseeland, um eine Lohnkampagne durchzuführen. Kurz darauf helfe ich in Kolumbien bei einem Streik oder verhandle in einer festgefahrenen Situation», erzählt Durtschi. Und daneben gebe es noch die klassischen Führungsaufgaben: Teamsitzungen, Mails schreiben und den Überblick behalten. Müde wirkt er dabei nicht. Aber klar, manchmal sei das Ganze schon anstrengend. «Kein Jet-Set-Leben mit Cüpli und Luxushotel», erzählt er lachend. Nur eine Sache mache ihn manchmal traurig: dass er oft weg sei von zu Hause und von seinen Liebsten. Aber im Moment gehöre das halt dazu. «In unserem Job ist es wichtig, vor Ort zu sein». Denn: «Wir sind Kämpfer und keine Bürokraten.»

VIEL UNTERWEGS: Adrian Durtschi, Direktor von Unicare, ist selten im Büro anzutreffen. Er reist oft um die halbe Welt, um Gewerkschaften von Pflegenden zu unterstützen.

BRANCHENKENNER. Bevor Adrian Durtschi zu UNI kam, hat er mehrere Jahre als Unia-Sekretär für die Pflege gearbeitet. Er kennt die schwierige Situation in der Branche. Die tiefen Löhne, die langen Arbeitstage, der grosse Druck. Die Probleme in den Pflegeberufen sind auf der ganzen Welt sehr ähnlich. Der Vorteil daran: Die Gewerkschaften können sie gemeinsam angehen. Durtschi ist dabei so etwas wie ihr Mittelsmann. Er berät und begleitet Gewerkschafter vor Ort, bei Kampagnen, Aktionen und Streiks. Ist eine Strategie erfolgreich, sorgt er dafür, dass sie auch Gewerkschaften in anderen Ländern übernehmen können. Angepasst auf regionale Unterschiede. Ein funktionierendes System, findet Adrian Durtschi. Denn: «Es ist sinnlos, wenn alle für sich herumwursteln und Fehler wiederholen.» Gerade weil die Gegner vielerorts dieselben sind: Grosskonzerne wie Orpea zum Beispiel, mittlerweile Nummer eins im europäischen Pflegesektor.

Tag der Pflege am 12. Mai

Aktionstag für gute Bedingungen in der Pflege. Um 11.30 Uhr auf dem Casinoplatz in Bern. rebrand.ly/pflege.

Auch in der Schweiz gross im Geschäft, mit Senevita und Spitex Stadt & Land. Immer wieder werden bei Orpea Missstände bekannt und Gewerkschaften ausgesperrt – in Frankreich, Belgien und Spanien genauso wie in der Schweiz. Da lohne es sich, gemeinsame Strategien zu fahren. Und Durtschi weiss aus eigener Erfahrung: «Was im Berner Oberland funk­tioniert, das funktioniert grundsätzlich auch in Paris oder Barcelona und umgekehrt.»

AUSBILDNER. Der Schlüssel zum Erfolg ist für ihn das «Organizing». Das heisst: in den Betrieben gewerkschaftliche Gruppen aufzubauen. Eine Ur-Arbeit der Gewerkschaften, die allerdings in den letzten Jahrzehnten mancherorts etwas in Vergessenheit ­geraten ist. Denn: «Lange waren wir auch so erfolgreich. Die Unternehmer haben mit uns verhandelt, selbst wenn wir nicht viel Kraft hatten.» Das hat sich inzwischen geändert. Und die Gewerkschaften müssten wieder mehr in die Betriebe, findet Durtschi. Aber: die Angestellten bevormunden, das funktioniere natürlich nicht. Deshalb lautet die erste Lektion in Durtschis «Organizing»-Trainings: «Geh hin, frag die Leute: Was möchten sie ändern? Wo liegen die Probleme? Und hilf ihnen, eigene Strategien zu entwickeln.» Er ist überzeugt: Wenn die Pflegenden selber aktiv werden, «dann sind wir stark». Wie in Argentinien, wo der Organisationsgrad im privaten Pflegesektor bei 65 Prozent liegt. «Stell dir vor, das wäre überall so», sagt Durtschi begeistert. «Dann hätten nicht mehr nur die Finanzmärkte das Sagen, sondern wieder die Arbeitenden.

Es ist eine schwierige Aufgabe, aber keine aussichtslose. Das zeigen die Erfolge. Wie jener in Kolumbien, wo 25 Frauen eine Gewerkschaft gegründet haben und nach nur zwei Jahren über 10’000 Mitglieder dazugekommen sind. Oder die Lohngleichheitskampagne in Neuseelands Pflegesektor, mit der schliesslich fast 20 Prozent mehr Lohn herausgeholt werden konnten. «Es geht doch!» sagt Durtschi und lächelt. Das ist, was ihn motiviert, immer weiterzumachen – das Wissen, dass man gemeinsam etwas verändern kann.


Adrian Durtschi Das Unia-Kind

Bevor Adrian und seine Geschwister geboren wurden, war es bei den Durtschis im Berner Oberland so: Die Frauen wurden Zahnarzt­helferinnen oder Pflegerinnen, die Männer Verkäufer oder Schreiner. Typische Unia-Berufe, sagt Adrian. So war er schon früh politisch und gewerkschaftlich engagiert.

JUNG UND POLITISCH. An seinem Wohnort in Thun gründete Adrian die lokale Juso-Gruppe mit. Als Handels­mittelschüler und später als Student (der erste in seiner Familie) hielt er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Bis er am 1. Mai 2007 bei der Unia Berner Oberland fragte, ob er ein Praktikum machen könne. Aus drei Monaten Praktikum wurden fast zehn Dienstjahre. Im Bau, im Detailhandel, in der Industrie, in der Jugend und schliesslich – als einer der ersten «Organizer» in der Schweiz – in der Pflege. Seit dem Wechsel zu UNI Global Union wohnt Adrian in Nyon. Um den Kopf freizu­bekommen, macht er Crossfit, eine Mischung aus Fitness und Wettkampfsport.

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