Uni Bern durchleuchtet den Schweizer Detailhandel

Mehr Jobs als die Banken

Christian Egg

Mit rund 94 Milliarden Franken Umsatz pro Jahr ist der Detailhandel eine der grössten Wirtschaftsbranchen der Schweiz. Trotzdem interessieren sich Forschung und Politik bisher kaum dafür. Jetzt aber haben Wissenschafterinnen der Universität Bern die Branche erstmals grundlegend analysiert. work nennt die wichtigsten Fakten und Zahlen.

DRITTGRÖSSTE BRANCHE. 323 000 Menschen arbeiten im Detailhandel. Sie teilen sich 240 000 Vollzeitstellen. Damit ist der Detailhandel die drittgrösste Branche in der Schweiz, nach Bau und Gesundheit. Zum Vergleich: Der ganze Finanzsektor hat nur halb so viele Stellen.

Illustrationen: Rolf Willi

TIEFE LÖHNE. Der mittlere Lohn im Detailhandel beträgt 4761 Franken brutto. Das ist viel weniger als in der Industrie (6255 Franken) und auch weniger als im Dienstleistungssektor insgesamt (6523 Franken).

FRAUEN ARBEITEN – MÄNNER SIND CHEFS. Zwei Drittel aller Beschäftigten im Detailhandel sind Frauen. Trotzdem sind die Kader mehrheitlich Männer: Bei Coop werden 66 Prozent der Filialen von Männern geleitet, bei Migros sogar zwischen 70 und 80 Prozent. Komplett in Männerhand ist bei beiden Grossverteilern die Geschäftsleitung: Es sind jeweils sieben Männer. Und null Frauen. Mehr Frauen hat es immerhin in den Verwaltungsräten: Bei Coop sind es derzeit sogar 5 von 10 – eine Frauenquote von 50 Prozent. Bei der Migros sind allerdings dann wieder nur 5 von 23 Mitgliedern Frauen.

FRAUEN VERDIENEN WENIGER. Wie fast überall erhalten Frauen im Detailhandel weniger Lohn als Männer. Besonders krass ist der Unterschied im mittleren und oberen Kader: mehr als 27 000 Franken im Jahr, das sind rund 28 Prozent. Bei den einfachen Mitarbeitenden beträgt die Differenz 5300 Franken jährlich, das sind 9 Prozent. Das ist weniger als der landesweite Durchschnitt von 18 Prozent. Für Natalie Imboden, Chefin Detailhandel bei der Unia, ist klar: «Das ist den Mindestlöhnen bei Coop und Migros zu verdanken, die in den Gesamtarbeitsverträgen festgelegt sind.»

JEDER ZEHNTE STIFT. Rund 16 000 junge Menschen machen jedes Jahr eine Lehre im Detailhandel. Die Branche bietet somit einen Zehntel aller Lehrstellen im Land an. Eine Studie im Kanton Bern hat sogar gezeigt: Für junge Frauen ist Detailhandelsfachfrau (drei Jahre) der dritthäufigste Lehrberuf, nach dem KV und Fachfrau Gesundheit.

AUSBILDUNG WIRD SCHLECHT BELOHNT. Traurig: Wer eine Lehre absolviert hat, verdient monatlich im Schnitt nur gerade 239 Franken mehr als eine ungelernte Arbeitskraft.

TEILZEIT-BRANCHE. Annähernd die Hälfte (47 Prozent) aller Beschäftigten in der Branche arbeiten Teilzeit. Aber: Die Mehrheit der Vollzeitstellen ist von Männern besetzt.

IMMER PREKÄRER. In den letzten Jahren ist die Zahl der Angestellten mit einem befristeten Vertrag von 10 000 auf 17 500 angestiegen. Sogar fast 58 000 mussten Schichtarbeit leisten – Tendenz zunehmend. Unia-Frau Imboden: «Das ist eine direkte Folge der längeren Öffnungszeiten, wie sie viele Kantone eingeführt haben.»

ZWEI RIESEN. Die grössten Detailhändler und ihre Umsätze im letzten Jahr:
1. Migros-Gruppe: 20,1 Mrd.
2. Coop-Gruppe: 15,8 Mrd.
3. Fenaco (Volg, Landi): 2,8 Mrd.
4. Aldi Suisse: 1,9 Mrd.
5. Ikea: 1,1 Mrd.

UMSATZ SCHRUMPFT. 2016 hat der Detailhandel insgesamt 1,7 Prozent an Umsatz verloren. Nicht alle Produkte waren gleich betroffen: Bei den Nahrungsmitteln war der Rückgang 0,7 Prozent, bei Freizeitartikeln 3,4 Prozent. Ein deutliches Plus von 3,7 Prozent gab es hingegen im Bereich der Heimelektronik.

ONLINE WÄCHST. Der Onlinehandel hat letztes Jahr um 8,3 Prozent zugelegt. Der Umsatz liegt mittlerweile bei knapp 8 Milliarden Franken, was etwa 7 Prozent des ganzen Detailhandels entspricht, Tendenz steigend. Die umsatzstärksten Onlinehändler sind Digitec, Zalando und Amazon, vor Nespresso und Brack.

MODE: VIELE NAMEN VERSCHWINDEN. Viele kleine und mittelgrosse Modeanbieter sind in den letzten Jahren verschwunden: Sie gingen konkurs (Yendi), schlossen fast alle Läden (Bata) oder wurden durch ausländische Ketten übernommen (Vögele, Companys, Blackout).


(K)eine Satire: So sieht die ideale Verkäuferin ausLibellenblick, und der Bostich schaut nach rechts

Den Libellenblick hat sie super drauf. Während sie in der Hocke Raviolibüchsen ins Gestell räumt, schaut sie ständig nach links und rechts. Erspäht sie einen Kunden, der etwas sucht, spricht sie ihn aktiv auf seine Wünsche an. Selbstverständlich, dass sie dabei ihre Arbeit unterbricht. So will es ihr Chef, so will es das Unternehmen.

KEIN DURST. Sie ist die ideale Detailhandelsverkäuferin. Die Vorgaben erfüllt sie jederzeit. Wenn ihre Schicht um sieben beginnt, stempelt sie zwischen 6.58 und 7.00 Uhr ein – nicht vorher, nicht nachher. Sitzt sie an der Kasse, steht der Bostitch an seinem Ort, nicht daneben. Und schaut nach rechts, nicht geradeaus. Eine Trinkflasche steht an der Kasse nicht. Die ideale Verkäuferin muss nicht trinken.

Und sie lächelt. Immer. Auch wenn sie in der tiefsten Lebenskrise steckt. Der Chef sieht auf der Überwachungskamera, ob sie lächelt. Tut sie es nicht, dann ruft er an.

Kein Zuckerschlecken. Die ideale Verkäuferin ist stets verfügbar und kennt weder Hunger noch Durst. (Foto: Istock)

LOHN GEHEIM. Über ihren Lohn spricht sie nicht. Schon gar nicht mit ihren Kolleginnen und Kollegen. Das wäre ein Kündigungsgrund. Täte sie es, dann würde sie herausfinden, dass ihr männlicher Kollege für die gleiche Arbeit 400 Franken pro Monat mehr bekommt.

Sie ist im Stundenlohn angestellt, mit einem 50-Prozent-Pensum. Ist aber die ganze Woche über verfügbar. Immer öfter wird sie zweimal pro Tag eingeteilt, am Morgen ein paar Stunden und dann am Abend wieder. Oder ihr Chef schickt sie vorzeitig heim, wennzu wenig Kunden im Laden sind.

BEI ANRUF ARBEIT. Eigentlich betreut sie am Nachmittag ihre zwei Kinder. Aber sie ist flexibel. Wenn sie arbeiten muss, springt zu Hause die Schwiegermutter ein. Die arbeitet zwar auch, verschiebt das aber auf einen anderen Tag. Der Arbeitgeber, bei dem die Schwiegermutter jetzt ausfällt, organisiert eine Ersatzkraft. Alles kein Problem.

Ihr Chef darf alles. Auch sie beleidigen. Mit Sätzen wie: «Ja, morgen hast du frei. Super, dann arbeiten morgen nur die Hübschen.» Zwar hat sie sich bei den Vorgesetzten dagegen gewehrt. Aber die Sache verlief im Sand.

Auch die Kundinnen und Kunden beleidigen sie oft. «Blöde, Dumme, Dicke, Hässliche.» Und wie reagiert sie? Natürlich freundlich: «Okay, ciao, schönen Abend.»

NICHT LUSTIG. In diesem Text ist nichts erfunden: Alle Fakten und Aussagen stammen aus der Studie «Der Strukturwandel im Detailhandel und seine Auswirkungen auf die Arbeitsplätze in der Branche». Download: www.izfg.unibe.ch

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