Die Unia spendete 20 000 Franken für Flüchtlinge. Hier landete das Geld:

Kalter Frühling in den Hügeln von Mlikh

Eva Geel

Sie hatten ein gutes Leben in Syrien. Doch der Krieg hat alles verändert. Jetzt müssen sie in der Fremde leben. Zum Beispiel Farhan Hussein Haddad mit seiner Frau. Seit der Flucht redet sie nicht mehr.

Trügerisch: Die Region um das südlibanesische Dorf ist reich an Flora, Fauna und Steinen. Zwischen den Felsbrocken blühen zartfarbige Frühlingsblumen. Doch das Leben der Geflohenen und der Einheimischen ist hart. (Foto: Eva Geel)

Der Raum ist kahl. Zwei dünne Matratzen, ein Sofa, ein wackeliger Sessel, auf dem ein zusammengeklebter Uralt-Fernseher thront, und ein kleiner Ofen in der Mitte, das ist alles. Dort sitzt der 13jährige Abdel ­Kader und wärmt sich. Es ist Frühling, aber noch immer kalt in dem südlibanesischen Dorf, in dem Abdel Kader mit seiner Familie Zuflucht gefunden hat. Jetzt, wo Besuch kommt, versteckt er Hände und Füsse in den Kleidern. Erst wenn er sich bewegt, merken wir, dass er wohl seine verstümmelten Hände und Füsse vor unseren Blicken schützt. Nicht zu verbergen sind die schwärenden Wunden im Gesicht.

Die Journalistin Eva Geel (57) ist Kommunikationschefin des ehemaligen Arbeiterhilfswerks Solidar Suisse. Sie besuchte diesen Frühling die Projekte von Solidar Suisse in Libanon, um in der Schweiz über die Situation der Menschen in Libanon zu berichten. Dies auch deshalb, um zu zeigen, wie hilfsbereit ein Staat gegenüber Kriegsopfern sein kann. Die Schweiz könne da von Libanon einiges lernen, findet sie.

OFFENE WUNDEN

Abdel Kader ist mit seiner Familie vor vier Jahren aus Syrien nach Libanon geflüchtet. Sein Vater, Farhan Hussein Haddad (47), sagt: «Zu Hause hatten wir ein gutes Leben.» Er ist ein einfacher Mann, in Syrien war er Schulwärter und hat etwas Landwirtschaft betrieben. Das Leben war billig, Schulen und Gesundheitswesen waren gratis. Doch der Krieg hat alles verändert. Die achtköpfige Familie flüchtete vor den Attacken nach Libanon. Vater Farhan: «Schlimm war das für ­Abdel.» Die ersten zweieinhalb Jahre musste die Familie in einem Zelt leben, im Dreck. Und Dreck ist Gift für die Wunden des Buben. Denn sie bedecken nicht nur das Gesicht, sondern den ganzen Körper. Immer wieder klebten die Kleider an den Wunden fest, oder sie entzündeten sich. Das ist heute, wo die Familie in einer Wohnung lebt, besser. Aber immer noch muss der Vater den 13jährigen, der halb so alt aussieht, regelmässig waschen, ihn beruhigen, wenn die Haut juckt, die Wunden eincremen und den Bub trösten, wenn es zu schlimm wird. Kein Wunder, ist Abdel ­Kader völlig auf seinen Vater fixiert und weint, wenn dieser die Wohnung verlässt.

Gezeichnet: Abdel Kader (rechts) ist 13 Jahre alt. Und sieht aus wie ein Achtjähriger. Seine Hände und Füsse sind verstümmelt, sein Körper ist übersät mit schwärenden Wunden. (Foto: Ahmad Hariri)

Grund für die Behinderung ist nicht der Krieg. Die Eltern wussten, dass ihr Kind behindert zur Welt kommen würde. Die Mutter, Mariam Ali Al Darwish, hatte während der Schwangerschaft eine Infektion. «Aber wir wollten das Kind», sagt der Vater.

Heute kümmert sich Mutter Mariam nicht mehr um ihren Sohn. Sie sitzt regungslos auf der Matratze, ein Kind auf dem Schoss. Sie sei traumatisiert, sagt ihr Mann. Was ihr widerfahren ist, wissen wir nicht. Die Familie spricht nicht darüber. So, wie viele Flüchtlinge nicht darüber sprechen wollen, was sie erlebt haben. Auch klagen sie selten. Nur den Blick wenden sie häufig ab, wenn die Rede auf ihre Situation in der Fremde kommt.

Alles verloren: Farhan Hussein Haddad war in Syrien Schulwärter und Bauer. (Foto: Esther Maurer)

SHAMPOO UND SEIFE

Auch die 24jährige Landarbeiterin Zahraa Zaid El ­Merhe lebte zuerst in einem Zelt. Mit ihrer Mutter hat sie sich aus Syrien nach Libanon gerettet. Doch die ­libanesische Regierung duldet keine wilden Zeltlager. Deshalb zerstört die Armee die notdürftigen Behausungen regelmässig. Zahraa erzählt: «Ich arbeitete jeden Tag auf den Feldern, pflückte Tomaten und erntete Kartoffeln, zehn, zwölf Stunden am Tag für einen Hungerlohn. Am Abend, wenn ich todmüde zurückkam, war das Zelt zerstört.» Sie konnte nicht mehr, «am liebsten hätte ich mich umgebracht», sagt sie.

Jetzt lebt die junge Frau mit ihrer Mutter in einer Wohnung im südlibanesischen Jezzine, wo sie als Tagelöhnerin bei libanesischen Frauen putzt. Es geht ihr viel besser, sagt sie. Sie verdiene mehr, werde von ihren Arbeitgeberinnen gut behandelt. Von der einen bekam sie ein Shampoo, von der anderen eine Seife. Doch eine dritte habe sie beschimpft und gesagt, sie werde dafür sorgen, dass Zahraa das Land verlassen müsse. Wieso sie den Zorn auf sich gezogen hat? Sie weiss es nicht. Seither kommen anonyme Drohungen. Von einem Mann. Er wisse, wo sie wohne, droht er. Das macht Angst.

REICH AN STEINEN

Das arme Libanon ist solidarischer als die reiche Schweiz.

In einer wahnsinnigen Anstrengung hat der libanesische Staat bisher rund 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen. Sie machen mittlerweile einen knappen Viertel der Bevölkerung aus, und das auf einer Fläche, die gerade mal so gross ist wie das Schweizer Mittelland. Die reiche und viel grössere Schweiz hat bei gut 8 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern nur knapp 14 000 Menschen aus Syrien aufgenommen.

Doch die vielen Menschen stellen den Staat, der in Libanon sowieso kaum funktioniert, vor grosse Her­ausforderungen. Den Gemeinden fehlt das Geld für die wichtigsten Arbeiten; Gesundheitswesen, Schulen und Abfallentsorgung kommen an den Anschlag. Und die Not ist auch unter armen Einheimischen gross. Das sorgt für Spannungen. Solidar Suisse, das ­ehemalige Arbeiterhilfswerk, unterstützt deshalb nicht nur bedürftige syrische Flüchtlinge wie die Familien von Abdel Kader und Zahraa Zaid El Merhe, sondern auch arme Einheimische wie die 84jährige Libanesin Farha Shaker. Sie wohnt in den Hügeln von Mlikh, einem südlibanesischen Dorf, «reich an Flora, Fauna und Steinen», wie es auf der örtlichen Website heisst. Und tatsächlich blühen überall zwischen den Felsen Frühlingsblumen in zarten Farben.

Solidarisch: Die Lebensküche von Farha Shaker ist mit Möbelspenden der Nachbarn eingerichtet. (Foto: Ahmad Hariri)

NACHBARSHILFE

Die alte Frau erwartet uns schon beim Dorfplatz. Sie übernimmt sofort das Kommando, scheucht uns in die ebenerdig gelegene Stube, scherzt und placiert uns energisch auf Sofa und Bett.

Ihre fröhliche Energie passt zu ihren knallrot lackierten Zehennägeln. Farha Shaker ist seit langem verwitwet. Bisher kümmerte sich ihr Bruder um sie. Doch nun ist er vor zwei Wochen an Krebs gestorben. Was nun werden soll, weiss sie nicht. Schon seit Jahren kann sie ihre Wasserrechnung nicht mehr bezahlen. Strom hat sie nur wenige Stunden am Tag. Eine AHV existiert nicht. Solidar Suisse versorgt Farha ­Shaker während der kalten Wintermonate mit Heizöl. Doch das reicht nicht. Sie hat Diabetes und braucht Medikamente. Wie viele der Armen und Ärmsten in Libanon versucht sie, von verschiedenen Seiten Hilfe zu organisieren. Auch ihre Nachbarn helfen. Einer bringt ihr gratis Wasser. Ein anderer strich nach einem Brand ihre zwei Zimmer neu und schenkte ihr alte Möbel. Von einer lokalen Hilfsorganisation erhält Farha manchmal Medikamente.

Keine Hilfe jedoch bekommt die Frau von der Politik. Unweit ihrer Wohnung steht eine grosse Villa. Sehr chic, sehr grosszügig, sehr reich. Das ist die Residenz des örtlichen Abgeordneten. Über Farha Shakers Situation weiss er sehr gut Bescheid. Doch erwarten kann sie von ihm nichts. Soziale Verantwortung ist bei den Reichen ein rares Gut. Erst 1943 wurde Libanon von der Mandatsmacht Frankreich unabhängig. Seither erschüttern immer wieder Kriege das Land. Die Stabilität im Vielvölker- und Vielreligionenstaat ist fragil.

Alles verloren: Farhan Hussein Haddad war in Syrien Schulwärter und Bauer. (Foto: Esther Maurer)

Die meisten Flüchtlinge in Libanon leben von der Hand in den Mund, Arbeit finden sie nur zu Hungerlöhnen, und die Kinder können sie nicht zur Schule schicken. Der Unterricht selbst ist zwar gratis, doch die Eltern können sich Schultransport und die obligatorischen Uniformen nicht leisten. Viele Geflüchtete sind krank und brauchten dringend Pflege. So wie Bsma Mohamad Shaban. Als ihr Dorf in Syrien zwischen die Fronten kam, wurde sie an Kopf, Knie und Hand verletzt. Ihre Hand tut weh, die Finger kann sie nur unter Schmerzen bewegen. Und Shabans Mann hat Augenprobleme. Eine Operation würde 2500 US-Dollar kosten. Doch solche Extras können sich die beiden nicht leisten. Im oberen Stock des Hauses leben ihre Verwandten, die Familie von Hassan und Gal Shaban. Die ganze Grossfamilie ist zusammen geflüchtet. Auch der 52jährige Hassan Shaban ist krank. Er hat Herzprobleme. Damals in Syrien haben die ältesten Kinder studiert, der Sohn Chemie, die Tochter Physik, die Schwiegertochter Literatur. Jetzt ist die Familie abhängig vom Einkommen des jüngeren Sohnes, des 17jährigen Mohamad Hassan, der in einer Süsswarenfabrik arbeitet. Nicht als Tagelöhner, wie viele der Geflüchteten, sondern als qualifizierter Arbeiter. Das ist dem Vater wichtig. Für seine Medikamente reicht das Geld aber trotzdem nicht.

SCHULDENFALLE

Solidar hilft Flüchtlingen und Einheimischen.

Ständig knapp bei Kasse sind auch die Haddads. Vater Farhan musste seine Arbeit aufgeben. Er wird zu Hause gebraucht und kümmert sich um seine Frau und den kleinen Abdel. Für den Familienverdienst ist nun der ältere Sohn zuständig. Mit dem Geld, das der junge Tagelöhner heimbringt, und weiterer Unterstützung von Organisationen wie Solidar reicht es gerade knapp für den Alltag. Trotzdem musste der Familienvater Schulden machen für Medikamente und Essen, mittlerweile sind es 1200 US-Dollar. Ausgeliehen hat er das Geld beim Apotheker, beim Supermarktbesitzer sowie bei Nachbarn und Verwandten. Und die sagen: «Zahl es zurück, wenn du wieder Geld hast.»


Hilfe konkret: Solidar Suisse in Libanon

Alle Menschen, die in diesem Artikel vorkommen, werden von Solidar Suisse unterstützt. Das ehemalige Arbeiterhilfswerk versorgt besonders verletz­liche Personen wie sehr arme Familien, Alleinerziehende oder Frauen. Solidar sorgt im Winter für Öfen und Heizöl,
unterstützt bedürftige Menschen finan­ziell oder schaut für bessere Unter­künfte.

So sorgt Solidar Suisse beispielsweise dafür, dass Wasserleitungen instand gesetzt, elektrische Leitungen gezogen oder die Wände abgedichtet werden. Das ist bitter nötig in einem Land, in dem es harte Winter und keine
funktionierende Verwaltung gibt.

TISCHE UND STÜHLE. Bei der Unterstützung achtet Solidar Suisse darauf, dass arme libanesische Familien ebenso unterstützt werden wie bedürftige syrische Flüchtlinge. Zudem unterstützt Solidar Suisse Hausbesitzer, die Flüchtlingen Wohnraum zur Verfügung stellen, und hilfsbedürftige Gemeinden. So hat Solidar Suisse etwa Geräte und Mate­rial für die wichtigsten medizinischen
Untersuchungen in einem Gesundheitscenter besorgt, eine grosse Schule mit Tischen und Stühlen ausgestattet und die sanitären Anlagen instand gestellt und für eine sichere Wasserversorgung gesorgt.

Die Unia ist im Vorstand von Solidar Suisse und hat die Arbeit in Libanon mit 20 000 Franken unterstützt. Spenden bitte auf das Konto PC 80-188-1.

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