Editorial

Mélenchon!

Oliver Fahrni

«Hier sind wir!» ruft er in die Menge am alten Hafen von Marseille, und aus 70 000 Kehlen steigt ein Freudenschrei. Ein bunter Haufen von Arbeiterinnen, Beamten und Bankern, Musikerinnen, Gewerkschaftern, Verkäuferinnen, Pensionierten, Schülerinnen und Biobauern staunt darüber, dass sie alle hier sind, am Meeting des linken Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon. Eigentlich ist diese Gegend Kernland der Neofaschistin Marine Le Pen und ihres Front national. Eigentlich sollten hier Furcht, Rassismus, Islamhass und wütender Nationalismus herr-schen. Doch, «hier sind wir», ruft die «Bewegung der Freien». Sie feiert soziale Rechte, Offenheit, Fortschritt, Gerechtigkeit.

Sozialer, feministischer, ökologischer.

SCHWEIGT UND HÖRT! Das alles stand im neoliberalen Europa nicht hoch im Kurs. Der Traum vom grossen Aufbruch schien zum Albtraum aus Krise, Massenarbeitslosigkeit und Sozialabbau zu werden. Fast überall blüht die extreme Rechte. Jetzt habt ihr keine Alternative mehr, sagen die Chefs von Frankreichs rechten Sozialisten: Wollt ihr den Faschismus verhindern, müsst ihr uns wählen! «Unsinn», sagt der linke Mélenchon, «dieses Land braucht weder extreme Rechte noch extremes Kapital.» Und er schwingt sich vor dem glitzernden Mittelmeer zu einer poetischen Phrase über den antiken Dichter Homer, die Demokratie und die Französische Revolution auf. Applaus. «Schweigt, ihr Leute!» ruft er da, «schweigt und hört: Hört den stillen, kalten Schrei der 30 000, für die dieses Meer zum Friedhof geworden ist.» Eine Minute lang ist kein Mucks mehr zu hören.

KLUGE KÖPFE. Mélenchon ist nicht nur ein Volkstribun, der Präsident werden will. Er verbittet sich «Mélenchon»- und «Président»-Fan-Rufe. «Widerstand» heisst der Slogan. Er hat ein soziales, humanistisches, feministisches und grünes Programm. Für neue Volksrechte. Und ein anderes, soziales Europa. Alles sehr handfest. Datiert. Gerechnet. Hinter dem Programm stehen die klügsten Köpfe des Landes und lange Arbeit. Sie haben die Erfahrungen des Amerikaners Bernie Sanders, der Linksparteien Podemos in Spanien und Syriza in Griechenland kritisch gespiegelt. Allein in den letzten zwei Märzwochen haben Mélenchons «Freie» 120 000 neue Mitglieder gewonnen. Auf Twitter folgen ihnen schon eine Million. Die Bewegung ist über ihren Kandidaten hinausgewachsen. Nun finden 42 Prozent der Franzosen, der Mélenchon wäre ein guter Präsident.

Oliver Fahrni ist Frankreich-Korrespondent.

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