Jean Ziegler ‒ la suisse existe

Das Fussballfest im Sklavenstaat

Jean Ziegler

Jean Ziegler

Erstaunliche Dinge geschehen dieser Tage in Genf: Quartiervereine, Gewerkschaften, Komitees von Schülerinnen und Schülern mobilisieren gegen die Stadtregierung. Streitpunkt: die sogenannte Fan-Zone, die Installation von riesigen Bildschirmen auf der Plaine de Plainpalais, dem zentralen Marktplatz im Herzen der Stadt. Die Fussballweltmeisterschaft beginnt am 20. November im Stadion al-Bayt im Norden des wahabitischen Emirats von Katar. Sie wird einen Monat lang dauern. Während dieser Zeit soll die Genfer Bevölkerung auf den Marktplatz strömen, um sich gemeinsam an den Spielen zu erfreuen.

Seit der WM-Vergabe sind in Katar über 6500 Arbeiter gestorben.

PROPAGANDA UND KORRUPTION. Die protestierenden Bürgerinnen und Bürger erwarten nicht nur eine lärmige Belästigung. Die politisch Versierten unter ihnen befürchten zudem die unverdiente Unterstützung der Propagandaaktion eines finsteren Unrechtsstaates. In einem völlig undurchsichtigen Auswahlverfahren, in dem viele Millionen Dollar an Korruptionsgeldern flossen, sprachen die Fifa-Oberen 2010 Katar die Austragung der Weltmeisterschaft zu. Dabei hat das Emirat keinerlei Tradition im Fussball, in der brütenden Hitze ist es auch kaum möglich, unter normalen Bedingungen zu spielen. So gab es 2010 auch noch keine ausreichende sportliche Infrastruktur. Wanderarbeiter aus Südindien, Nepal, Bangladesh und Pakistan mussten in den folgenden Jahren acht Stadien mit Kühlung, Trainingsstätten, Strassen und Hotels bauen.

Gestützt auf Zahlen, die die Konsulate aus den Heimatländern der Arbeiter lieferten, und eigene Berechnungen veröffentlichte der britische «Guardian» 2021 eine erschreckende Bilanz: Seit der WM-Vergabe 2010 starben bei Bauarbeiten über 6500 Arbeiter. Trotz Interventionen der Inter­nationalen Bau-und-Holzarbeiter-Gewerkschaft (BHI) und Versprechungen des Regimes gab es auf vielen der gigantischen Baustellen bis zuletzt keine Sicherheit.

Katar ist eine sandige Halbinsel im Persischen Golf von knapp 10 000 Quadratkilometern. Dort leben zwischen 250 000 und 300 000 Bürgerinnen und Bürger und mehr als 2,5 Millionen völlig rechtlose Wanderarbeiterinnen und -arbeiter, die dafür sorgen müssen, dass der Staat läuft. Sie fördern auf Plattformen vor der Küste Erdgas und erschaffen damit den unermesslichen Reichtum des Landes.

REICHER FINSTERLING. Seit dem Ende der britischen Kolonialherrschaft 1971 übernahm die Familie Al Thani das Emirat. Heute beherrscht Scheich Tamim bin Hamad Al Thani den Sklavenstaat. Er kam durch einen Staatsstreich gegen seinen Vater – der seinerseits seinen Vater gestürzt hatte – an die Macht. Die Fussball-WM in seinem Land ist für sein internationales An­sehen von unschätzbarem Wert.

Fussball ist ein wunderschönes Spiel. Ich wünsche unserer Nationalmannschaft stets alles Gute, sogar in Katar. Aber ich habe einen Wunsch: dass kein Bundesrat und keine Bundesrätin, nicht einmal die Sportministerin Viola Amherd, zur WM reist. Der Finsterling Al Thani verdient diese Ehre nicht.

Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein 2020 im ­Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam diesen Frühling als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus.

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