Editorial

Die Welt tanzt

Oliver Fahrni

Eigentlich möchten wir jetzt gar nicht in die Sommerpause. Viel zu aufregend, was da gerade geschieht: Überall nehmen die Leute ihr Schicksal wieder in die eigenen Hände.

NOTFALLS LAUT. Höchste Zeit, finden sie, das Wort zu ergreifen. In Frankreich rufen sie: «Dégagez! » Haut ab! Haut ab, ihr, die unsere Jobs vernichtet, damit ein paar Aktionäre mehr Gewinn einstreichen. Weg mit euch, ihr, die unsere Zukunft und unsere Lebenschancen verfresst. Macht den Abgang, ihr, die das Klima aufheizt und uns in unermessliche Katastrophen führt. In den Orkus mit euch, die an allen Ecken der Welt Kriege für ein paar Fässer Öl anzettelt. Raus, ihr Mauerbauer, Mietspekulanten, Fremdenhetzer, Hungermacher, Flüchtlingsmörder, Sachzwangprediger, Sparneurotiker, Finsternishändler. Lasst euer Geschwafel vom Ende der Politik stecken: Wir machen gerade Politik. Neue Politik. Politiker und Wirtschaftsführer mimen Normalität. Tatsächlich aber sprachen sie dieses Jahr am WEF in Davos nicht mehr von der «drohenden Rebellion», sondern vom «laufenden Aufstand». Sie sehen, dass sich viele Bürgerinnen und Bürger von den alten Parteien nicht mehr vertreten fühlen. Die noch immer mottende Krise von 2008 wirkt nach. Sie war der krachende Konkurs der neoliberalen Politik. Doch es kam keine andere. Im Gegenteil: Die Besitzenden, die Banker und Aktionäre setzten einen noch verschärften Neoliberalismus durch. Der soll notfalls autoritär durchgesetzt werden, per Ausnahmezustand und mit einer neuen Einheitspartei, wie sie Präsident Emmanuel Macron in Paris gerade hochzieht.

TIEFE DEMOKRATIE. Wahrscheinlich kommt das zu spät. Die Gesellschaften bewegen sich. «Haut ab!» ist nur ihre halbe Botschaft: In Selbsthilfegruppen und wachsenden politischen Bewegungen proben die Menschen neue Formen des Zusammenlebens und der Politik. Linke Werte sind zurück. Die Geschichte der Menschheit war immer ein Ringen zwischen der Befreiung des Menschen von Zwängen und der Ordnung. Doch diesmal kommt etwas hinzu: tiefe Demokratie. Die Bewegten wollen nicht einfach Werte, Parolen und die Delegation an Parteien. Sie wollen ihre Zukunft kollektiv aushandeln. Immer wieder.

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.