Belgiens Gewerkschaften sind erwacht
Mit einem Generalstreik gegen die ultrarechte Regierung

Belgiens Gewerkschaften kämpfen mit einer grossen Koalition und gezielter Eskalation gegen den Turbo-Kapitalismus der Regierung. 

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BELGIEN IST IM AUSNAHMEZUSTAND: Protestmarsch durch Brüssel. (Foto: Keystone)

So baut man Druck auf, wenn man Kapital, Regierung, Polizei und die meisten Medien gegen sich hat. Am 26. November legte ein Generalstreik der Gewerkschaften Belgien lahm.
 
Nichts ging mehr. Es war der dritte Streiktag, am 24. hatten Bähnler, Bus- und Tramfahrerinnen den Startschuss gegeben, verbunden mit einem Aktionstag gegen Gewalt an Frauen. Tags drauf machte der Service public zu, dann stand das ganze Land still. Eine Bewegung dieser Wucht braucht solide Vorbereitung.

«Marathon des Widerstandes»

Doch von vorne: Kaum war der neue, sehr rechte Regierungschef Bart De Wever im Amt (Giorgia Meloni gratulierte), waren am 13. Februar 80'000 Menschen im Protest vom Brüsseler Nordbahnhof zum Südbahnhof gezogen. Aufgeschreckt hatte sie das 205 Seiten starke Programm von De Wever für seine Koalition aus fünf Parteien («Arizona-Koalition»). Malika Roelants, eine bekannte Frauenbewegte, nannte es einen «Katalog allen Horrors». Keine kapitalistische Zumutung fehlt darin: Rentenklau, Erhöhung des Rentenalters (ein Feuerwehrmann: «Soll ich mit 67 noch in Brände klettern?»), Reduktion des Arbeitslosen- und Krankengeldes, Deregulierung der Arbeitszeiten, Abbau des Service public, Steuersenkungen für die Reichen, Regression der Frauenrechte, Angriff auf die Gewerkschaften und so weiter und so fort. Kurzum: Klassenkampf von oben.
 
Und natürlich propagierte der neue Regierungschef ein brutales Vorgehen bei der «inneren Sicherheit». Sprich: harte Hand gegen Flüchtlinge und Aufrüstung.

GEGEN FRAUEN, GEGEN ARBEITER, GEGEN MIGRANTINNEN: Belgiens Regierungschef Bart De Wever. (Foto: Keystone)

Für die bisher oft zahmen Gewerkschaften, die manche neoliberale Reform mitgetragen hatten, aber auch soziale Errungenschaften wie den automatischen Teuerungsausgleich verteidigten, war klar: Ihr Überlebenskampf hatte begonnen. Sie mussten wieder Muskeln zulegen, wollten sie die soziale Sicherheit und die Grundrechte der Bevölkerung sichern.
 
Linke, christliche und liberale Gewerkschaften schlossen sich sofort zu einer breiten Koalition zusammen. Thierry Bodson vom linken Gewerkschaftsbund FTGB beschrieb es so: «Wir wussten, dass wir uns auf einen Marathon des Widerstandes einrichten mussten.» 

Die Eskalation

Also mit einem Erdbeben beginnen und langsam steigern. Schon vor der Februar-Demo hatten 30'000 Lehrerinnen und Lehrer die Arbeit niedergelegt, später waren es 120'000. Im März folgte ein erster Generalstreik. Diverse Aktionen und Sektorstreiks hielten den Widerstand den Sommer über am Köcheln. Am 14. Oktober kamen schon 140'000 Menschen zur Demo gegen De Wever. Was belegte, dass zwischen Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Gruppen ein weites Bündnis wächst.
 
Jetzt verschärfte De Wever den Ton. Am 24. November prügelte er seine Koalition zu einem beinharten Haushaltsgesetz, das den Sozialabriss noch weiter treibt als das ursprüngliche Regierungsprogramm.
 
Die belgischen Soziologen, mit denen work korrespondiert hat, wagen keine sichere Prognose über den Ausgang. Einige halten die Position der Regierung für nicht haltbar. Andere denken, De Wever sehe, dass sein «Thatcher-Moment» gekommen sei. Die eiserne Neoliberale Margaret Thatcher hatte in ihrer Zeit als Premierministerin von Grossbritannien die streikenden Bergarbeiter mit brutalen Methoden bekämpft und den britischen Gewerkschaften eine Niederlage beigefügt, die sie bis heute schwächt. De Wever könnte ebenfalls die Entscheidungsschlacht suchen. Erst recht in Trump-Zeiten.

Flamen gegen Wallonen

Der Mann ist eine bizarre Figur in einem komplizierten Land. De Wever ist ein flämischer Nationalist, der es sich zum Ziel gemacht hat, den niederländisch sprechenden Teil Belgiens abzuspalten. Die Sprachenteilung könnte die kleine parlamentarische Monarchie im Herzen der EU zerreissen. Um die Spaltung zu verhindern, hat sich das Land ausgeklügelte föderalistische Mechanismen gegeben. Die aber sind mit einem Separatisten als Premierminister nun akut gefährdet. Sein Haushalt für 2026 benachteiligt gezielt das französischsprachige Wallonien. Die flämischen Sozialdemokraten sind Teil von De Wevers ultrarechter Koalition. Im Europäischen Parlament sitzt seine Partei N-VA (Neu-flämische Allianz) mit der Nationalistin Meloni und Frankreichs Identitären von Eric Zemmour zusammen.
 
Und hier liegt die vielleicht grösste Stärke der neuen Bewegung, die da gerade um die Gewerkschaften herum wächst: Sie integriert alle Berufe und sozialen Situationen, sie spricht Französisch und Flämisch, sie weist die Spaltung zurück: Klasse geht vor «Identität».


Klassenkampf in Europa2025: Das Jahr des Zorns

Gerade macht der Generalstreik in Belgien Schlagzeilen. Doch dabei blenden die Kommentatoren das grössere Ganze aus: 2025 ist das Jahr des Zorns überall in Europa, des Zorns der Arbeitenden gegen Spardiktate und Sozialabbau.

GEGEN DEN VÖLKERMORD UND GEGEN MELONI: Proteste in Italien. (Foto: Keystone)

Der entlud sich nicht nur in zahllosen Arbeitskämpfen zwischen Adria und Atlantik. In Frankreich fielen nach Massenprotesten gegen den verschärften Kapitalismus («Blockieren wir alles!») 2025 zwei Regierungen, die dritte wackelt heftig und hofft auf die Rettung durch die Faschisten. In Griechenland legte im Herbst ein Generalstreik den Inseltourismus lahm. Italiens Basisgewerkschaften USB und CUB sagen einen Totalstillstand für den 29. November an. Dies nach Millionenprotesten gegen den Völkermord in Gaza, der sich explizit auch gegen die Austerität der neofaschistischen Regierung Meloni richtete. Die traditionellen italienischen Gewerkschaften um die CGIL haben ihrerseits zum Generalstreik am 12. Dezember gerufen. Nur einen Tag nach dem angesagten Landesstreik in Portugal. Die Labour-Regierung in London und die Grosse Koalition in Berlin, beide vor nicht langer Zeit gewählt, haben wegen ihrer Austeritätspolitik längst jede Mehrheit verloren.
 
Auffallend ist: So verschieden die politischen und ökonomischen Verhältnisse in diesen Ländern sein mögen, spielt doch überall genau dieselbe Mechanik: Die Regierungen beklagen eine hohe Verschuldung (Frankreich 115 Prozent des BIP, Italien 138 Prozent). Also reissen sie den Service public ab, zerstören die soziale Sicherheit, erhöhen Arbeitszeit und Rentenalter und schleifen die Rechte der Arbeitenden. Daran führe kein Weg vorbei, sagen sie. Das ist nicht neu – doch die Mechanik beschleunigt gerade enorm.
 
In Wahrheit steckt dahinter ein gigantischer Betrug. Nicht die Sozialausgaben reissen das Loch in den Haushalt (tendenziell sinken diese überall). Auch nicht der abgespeckte Service public. Die Regierungen produzieren Defizit und Schulden bewusst. Zum einen mit Steuersenkungen für die Reichen und die Konzerne. Zum anderen mit gigantischen Beihilfen für einen Kapitalismus, der den Staat zu seiner Privatschatulle gemacht hat. Kein Geld mehr da, sagen Meloni, Merz und Macron. Steuererhöhungen für die Superreichen aber seien tabu. Und legen das grösste Rüstungsprogramm seit 80 Jahren auf.

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