Grossbritannien: U-Bähnler fordern 4-Tage-Woche
Sie haben London lahmgelegt

Wer in London Aufmerksamkeit will, legt die U-Bahn still. Das haben die 10’000 Streikenden der Transportgewerkschaft RMT geschafft. Zweieinhalb Jahre nach der grossen Streikwelle ist die Gewerkschaftsbewegung in Grossbritannien ziemlich selbstbewusst.

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STREIK MIT STRAHLKRAFT: Büezerinnen und Büezer haben das U-Bahn-Netz in London zum Erliegen gebracht. (Foto: Keystone)

Wenn die U-Bähnler streiken, geht in der britischen Hauptstadt nichts mehr. Überfüllte Busse, verstopfte Strassen, Gedränge an den Bahnhöfen, missmutige Passagiere. Die Rail, Maritime and Transport Union (RMT), die einen Grossteil der Angestellten im Londoner ÖV vertritt, hatte für Anfang September zum Streik gerufen und damit das grösste U-Bahn-Netz Europas lahmgelegt. Rund 10'000 Ingenieure, Stationspersonal, Stellwerker und Zugführer streikten – und über drei Millionen Londonerinnen und Londoner, die jeden Tag die «tube» benutzen, mussten alternative Verkehrsmittel finden.

U-Bahn-Fahrer Stephen Wood (37) sagt schmunzelnd: «Es klappte ganz gut.» Und meint damit: Der Streik verursachte ausreichend viel Chaos und damit viel Aufmerksamkeit. Er spricht hier als Privatperson, nicht als Sprecher der RMT. Wood stand in jener Woche am Streikposten an der Station Acton Town im Westen Londons. Er ist U-Bahn-Fahrer auf der Piccadilly Line, der blauen Linie, die die Metropole von West nach Ost durchquert. Zudem ist er aktiver Gewerkschafter. Bei der RMT amtiert er als stellvertretender Sekretär für die Zweigstelle Piccadilly and District Line West.

4-Tage-Woche

U-Bähnler Stephen Wood. (Foto: ZVG)

Beim Streik ging es vor allem um die Forderung einer kürzeren Arbeitswoche. Wood sagt: «Wir wollen unser Wochenpensum auf 32 Stunden senken, bei gleichbleibendem Lohn; ein U-Bahn-Fahrer verdient etwa 70'000 Pfund im Jahr.» Eine 4-Tage-Woche würde die Situation der Zugfahrerinnen und -fahrer und des anderen Personals auf der U-Bahn verbessern. Denn Ermüdungserscheinungen seien ein häufiges Problem in der Branche. Der Arbeitgeber, Transport for London (TfL), hat zwar eine Lohnerhöhung von 3,4 Prozent für alle Underground-Angestellten angeboten. «Aber TfL ist nicht bereit, überhaupt mit uns über eine kürzere Arbeitswoche zu reden», sagt Wood.

Neues Selbstbewusstsein

Der wochenlange Streik war der erste auf der Londoner U-Bahn seit über zwei Jahren. Damals, im Frühjahr 2023, war in Grossbritannien gerade eine bedeutende Periode der Arbeitsdispute zu Ende gegangen: In den acht Monaten zuvor erlebte das Land die grösste Streikwelle seit mindestens drei Jahrzehnten. Galoppierende Inflation und die dadurch steigenden Lebenshaltungskosten hatten Lohnabhängige in unzähligen Sektoren – darunter Pfleger, Ärztinnen, Zollbeamte, Zivilbeam-
te und Lehrer – in ernste Schwierigkeiten gebracht. Sie sahen eine Arbeitsniederlegung als letzte Möglichkeit, Lohnerhöhungen durchzusetzen. An manchen Tagen waren mehrere Hunderttausend Angestellte im Ausstand (work berichtete).

Was ist davon übriggeblieben? Gewerkschafter Wood sagt: «Die Streikwelle hat vielen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern etwas mehr Zuversicht gegeben.» Das treffe gerade auf junge Leute zu: «Sie haben gesehen, dass man durchaus etwas erreichen kann, wenn man kollektiv die Arbeit niederlegt.» Besonders viel Selbstbewusstsein haben die Assistenzärztinnen und -ärzte gewonnen, die damals zu den prominentesten Streikenden zählten. Im Juli 2024, nach mehr als zehn separaten Streikperioden, gewährte ihnen die neue Labour-Regierung eine Lohnerhöhung von rund 22 Prozent. Aber um die Lohneinbussen der vergangenen fünfzehn Jahre wettzumachen, sei mehr nötig, sagen die Ärzte. Und so sind sie im vergangenen Juli erneut in den Streik getreten, sie fordern eine Lohnerhöhung von 29 Prozent.

Schlagzeilen hat auch der Streik der Güselmänner und -frauen in Birmingham gemacht. Seit März streiken rund 350 «bin workers», die zur Gewerkschaft Unite gehören. Die Lokalbehörde der zweitgrössten Stadt Grossbritanniens hat eine Vertragsänderung angekündigt, die in einer Jahreslohneinbusse von bis zu 8000 Pfund (ca. 8500 CHF) für etwa 150 Angestellte resultieren würde. Das akzeptieren die Gewerkschafter nicht, aber die Lokalbehörde stellt auf stur – und so haben die Unite-Mitglieder für eine Verlängerung des Streiks gestimmt. Am vergangenen Wochenende sind sie erneut durch die Strassen gezogen, zusammen mit mehreren Hundert Unterstützern. «Es ist nicht fair, dass sie die Löhne der Leute auf diese Weise kürzen», sagte die Güselwagen-Fahrerin Ronnie Mills zur BBC. Sie wolle zurück zur Arbeit – «aber nicht für diesen tieferen Lohn».

Enttäuschte Arbeiterschaft

Im Vergleich zur Streikwelle von 2022/23 gibt es heute einen grossen Unterschied: Es sind nicht mehr die konservativen Tories an der Macht, sondern die Labour-Partei. Diese pflegt enge Beziehungen zur organisierten Arbeiterschaft. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die Gewerkschaften die Partei finanziell unterstützen. Tatsächlich plant Labour ein Gesetz, das die Rechte der Arbeitnehmenden stärken würde. Es würde unter anderem besser vor ungerechtfertigter Entlassung schützen. Zudem soll es die Antigewerkschaftsgesetze, die die Tories eingeführt hatten, teilweise rückgängig machen. Es würde also beispielsweise weniger Hürden geben, bevor ein Streik ausgerufen werden kann.

Aber insgesamt, so U-Bahn-Fahrer Stephen Wood, ist die Arbeiterbewegung ziemlich enttäuscht von der neuen Regierung. «Sie hat grössere Sozialkürzungen eingeführt, etwa beim Kindergeld für arme Haushalte oder dem Heizzuschuss für Rentnerinnen und Rentner.» Viele Lohnabhängige hätten die Hoffnung auf eine Verbesserung ihrer Lebensumstände schon längst aufgegeben. Dass es wieder vermehrt zu Arbeitskämpfen kommt, kann er also nicht ausschliessen. Die Gewerkschaft RMT wird sich bald wieder mit dem Arbeitgeber zu Gesprächen zusammensetzen. Wenn sie nicht fruchten, dann könnte London bald wieder stillstehen.

* Peter Stäuber ist freier Journalist in London. Er schreibt unter anderem für die «Wochenzeitung» (WOZ) und ist Mitglied der Journalist:innen-Gewerkschaft National Union of Journalists.

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