Streit um unsere Wurzeln – jetzt schaltet sich Geschichtsprofessor Hans Ulrich Jost ein
«Die Rütli-Schweiz ist eine Legende»

Rütlischwur, Wilhelm Tell und Neutralität: Die Mythen der SVP helfen nicht, die moderne Schweiz zu verstehen, sagt Historiker Jost. Diese haben vor zweihundert Jahren nämlich die europäischen Grossmächte erfunden.

SAISONNIER-REALITÄT: Bergungsarbeiten nach dem Lawinenunglück in Mattmark VS. (Foto: Keystone)

Nun ist offenbar sogar dem bürgerlichen Historiker und ehemaligen Mitarbeiter der NZZ, Thomas Maissen, der Kragen geplatzt. Er hat ein Buch publiziert. Ein Buch gegen die Geschichtsfälschungen der SVP, dieses «rechtspopulistische Bollwerk». Eine Schrift gegen die Schlagworte, mit denen Christoph Blocher, Christoph Mörgeli (SVP) und Roger Köppel (SVP und «Weltwoche») in diesem Jubiläumsjahr nur so um sich werfen. ­«Gegen fremde Richter», gegen Habsburg (heute die EU), für Wilhelm Tell, für die Schweizer Neutralität seit der Schlacht von Marignano (1515) und für die unabhängige Schweiz seit dem Rütlischwur (1291). Die SVP versucht, der Geschichte der Schweiz die Schlagworte ihres Programms aufzupfropfen. Gegen dieses Machwerk will Maissen «den heutigen geschichtswissenschaftlichen Kenntnisstand ins politische Streitgespräch» einbringen.

So zerzaust Maissen zum Beispiel die SVP-Behauptung, die Eidgenossen hätten nach der Schlacht von Marignano (1515) die ewige Neutralität eingeführt. Purer Unsinn. Nach Mari­gnano entwickelten die Eidgenossen im Gegenteil mit ihrem Söldnerwesen eine europaweite Bündnis- und Handelspolitik.

Hans Ulrich Jost

Doch die Macht des Faktischen vermag Blocher nicht zu beeindrucken. Schliesslich geht es der SVP auch nicht um die Realität. Es geht ihr nicht um die Geschichte der Schweiz, sondern nur um die Verwertbarkeit von Schweizer Sagen und Legenden für ihre Politik. Im «Blick» (17. März 2015) reagierte Blocher auf Maisssens Abrechnung denn auch nicht mit ­Argumenten. Denn solche fehlen meist. Blocher schoss auf die Person des Historikers und sagte, Maissen «mindert die Schweiz her­ab, weil er sie in die EU führen möchte». Ende der Diskussion.

Es hat also wenig Sinn, mit Blocher und seinen Gefolgsleuten über nicht verifizierbare Legenden und über verstaubte patriotische Geschichtsvorstellungen zu streiten. Wir sollten uns besser auf jene historischen Meilensteine besinnen, die die moderne Schweiz wirklich prägten. Und deren Auswirkungen auch heute noch sichtbar sind.

Söldner und Händler 

Woher kommt der Reichtum der Schweiz? Man kann wohl kaum ernsthaft behaupten, Wilhelm Tell und die drei Eidgenossen hätten, falls sie überhaupt existiert haben, auf dem Rütli ihr Erspartes zusammengetragen. Und so die Grundlage für die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz gelegt. Die Rütli-Schweiz ist eine Legende. Der wirtschaftliche Aufstieg der Schweiz beruht auf dem lukrativen Söldnerwesen. Die Kantone und die herrschenden ­Familien erhielten für den Einsatz der Schweizer Söldner im Ausland viel Geld. Einzelne Kantone konnten damit über die Hälfte ihrer Staatsausgaben decken.

Reich wurde die Schweiz aber in erster ­Linie mit dem Handel der Städte. Dieser spielte sich weit über die Grenzen der Eidgenossenschaft hinaus ab. Über Lyon, Genf, Freiburg, Bern, Zürich, Konstanz bis Leipzig oder von Mailand über die Alpenpässe, Basel, Strassburg bis Antwerpen entwickelten sich im 15. und 16. Jahrhundert Handelsrouten, die das erste grosse Geld ins Land spülten.

Um diese Handelsrouten abzusichern, brauchte das Land Verträge. Doch damit solche Verträge überhaupt wirksam sind, muss man sich auf ein grenzüberschreitendes Rechts­system abstützen können. Deshalb ist die ­Geschichte der alten Eidgenossenschaft mit Hunderten von Verträgen und Abkommen gepflastert. Ohne diese hätten die Schweizer Kaufleute kaum eine Chance gehabt, ihre Geschäfte in aller Welt zu tätigen und die Produkte der einheimischen Handwerker und Bauern für gutes Geld abzusetzen.

Napoleon und der Föderalismus

Trotz dem wirtschaftlichen Erfolg fiel die alt­eidgenössische Innenpolitik in eine tiefe Krise. Es kam 1798 zum Umsturz, mit Hilfe französischer Truppen. Die alte Eidgenossenschaft ging unter. Die Schweiz wurde Satellit des napoleonischen Reiches. 

Interessant bei dieser Geschichte ist der darauf folgende Aufbau der neuen Schweiz. Sie wurde nicht von den heillos zerstrittenen Eidgenossen selber, sondern von Napoleon und seinen Beratern ­geschaffen. Mit der 1803 in Paris geschriebenen Verfassung erhielt die neue Schweiz ihren föderalistischen Aufbau. Zudem mussten die neuen Kantone, ehemalige Untertanengebiete (z. B. die Waadt), als gleichberechtigte Bundesglieder anerkannt werden. Damit war jener heute so viel gepriesene eidgenössische Ausgleich geschaffen, der ein Zusammenleben der verschiedenen Regionen, Kulturen und Sprachen ermöglichte.

Doch 1814 fiel Napoleon. Und auch sein helvetisches Werk war gefährdet. Die Kantone waren einmal mehr tief zerstritten. Die aristokratischen Oberschichten verlangten die Rückkehr zu den alten Herrschaftsrechten. Sie ­waren die Rechtskonservativen jener Zeit und wollten, dass die neuen Kantone wieder Untertanengebiete würden. Man stand kurz vor dem Bürgerkrieg.

Ohne Europa keine Schweiz

Zum Glück für die Schweiz griffen nun die europäischen Mächte ein. Dies geschah am Wiener Kongress, der von den Grossmächten 1815 organisierten Friedenskonferenz. Für die Schweiz schrieben die Vertreter der ausländischen Mächte eine neue Verfassung. Österreich, Russland, Preussen, England und Frankreich: Sie würden im Interesse des Friedens in Europa handeln, betonten sie. Diese Verfassung beruhte im wesentlichen auf den Grundlagen der 1803 geschaffenen, föderalistischen Ordnung. Österreich, Russland und England zwangen die Eidgenossen, die neuen Kantone Aargau, Thurgau, St. Gallen, Graubünden, Tessin, Waadt, Genf, Neuenburg und das Wallis gleichberechtigt in den Bund aufzunehmen. Dies war die Bedingung für die Anerkennung als souveräner Staat. Hätte es diese Intervention von aussen nicht gegeben, gäbe es heute keine Schweiz.

Nicht 1291 entstand der Bundesstaat, wie wir ihn heute kennen, sondern 1848. Die Ideen für diesen Staatsaufbau kamen aus verschiedenen Quellen. Der Föderalismus wurde aus den vorangegangenen Verfassungen übernommen. Das Zweikammersystem (National- und Ständerat) kommt aus der US-amerikanischen Verfassung von 1787. Und die liberalen Ideen stammen von englischen und französischen Gelehrten wie etwa den Philosophen John ­Locke und Montesquieu.

Dieser kurze historische Überblick zeigt: Den Erfolg der Schweiz können wir nur verstehen, wenn wir dem internationalen Kontext gebührend Rechnung tragen. Hinzu kommt, dass beim Aufbau der Schweiz Migranten eine wesentliche Rolle spielten. Nur dank ihrer ­Arbeit war der Bau des Gotthard- und des Simplontunnels, der Staumauern für Elektrizitätswerke und der Autobahnen möglich.

Mattmark regiert

Statt Marignano zu feiern, sollten wir dieses Jahr deshalb besser Mattmarks gedenken. Diese Katastrophe von 1965 ist das tragische Sinnbild eines wichtigen Teils unserer neusten Geschichte.

Vor fünfzig Jahren, am 30. August, verschüttete eine Eislawine das Barackendorf der Baustelle des Mattmark-Damms. Mit ihm sollte im Wallis ein weiterer Stausee zur Elektrizitätsgewinnung geschaffen werden. 88 Arbeiter, darunter 56 Italiener und 27 Schweizer, ­kamen dabei ums Leben. Wie bei den meisten grossen Baustellen der Schweiz waren die Mehrheit der Arbeiter Ausländer. Die Suche nach den verschütteten Leichen dauerte ein halbes Jahr. 1972 kam es dann zu einem Prozess ­gegen die Vorgesetzten, die für die Baustelle verantwortlich waren. Das Gericht sprach alle Angeklagten frei.

Die Reaktionen auf das Mattmark-Drama und diesen Freispruch waren verständlicherweise heftig, besonders in Italien. Dabei spielte auch das Problem der italienischen Saison­niers eine nicht unbedeutende Rolle. Man nannte sie damals Fremdarbeiter oder Gast­arbeiter, sie sollten nur hier arbeiten, aber nicht hier bleiben. Der Zufall will es, dass ­ausgerechnet in diesem Jahr 1965 nach langwierigen Verhandlungen ein italienisch-schweizerisches Abkommen über die Immi­gration zustande kam. Der Nationalrat hatte dieses mit 117 zu 26 Stimmen verabschiedet.

Das Abkommen lockerte endlich das bisherige Saisonnierstatut, das die italienischen Arbeiter in der Schweiz praktisch zu recht­losen Arbeitskräften degradiert hatte. Die Lockerung war zwar nicht grossartig, doch die Saisonniers erhielten etwas mehr Rechte. Zum Beispiel mussten sie neu nicht mehr 10 Jahre am gleichen Ort ausharrren, bis sie die Arbeitsstelle wechseln konnten, sondern nur noch 5. Und die Frist für den Familiennachzug wurde von 3 Jahren auf 18 Monate reduziert. Nach fünf aufeinanderfolgenden Saisons in der Schweiz konnten Saisonniers das Aufenthaltsrecht beantragen.

Schwarzenbachs Erbe

Es begann eine neue, wenig erfreuliche Geschichte, die uns noch heute beschäftigt: der Aufstieg fremdenfeindlicher Kreise. 1967 ­eroberte die rechtskonservative Nationale Aktion (NA) auf Anhieb 11 Sitze im Nationalrat. Die NA war die Partei von James Schwarzenbach, dem Spross einer grossbürgerlichen Zürcher Fabrikantenfamilie. Sein Name stand für eine Initiative, mit der ein grosser Teil der ausländischen Arbeiter aus dem Land ­geworfen werden sollte. Die Schwarzenbach-Initiative kam 1970 zur ­Abstimmung und ging mit 54 Prozent Nein bachab. Das politische Erbe von Schwarzenbach traten wenige Jahre später Christoph Blocher und die SVP an. Der ehemalige Sekretär von Schwarzenbach, Ulrich Schlüer, zählt heute zu den fremdenfeindlichen Scharfmachern und den feurigsten Vertretern der nationalkonservativen Geschichtsdeuter der SVP.

Der Kreis schliesst sich hier. Und wir sind wieder am Anfang des Textes, bei der Manipulation der Geschichte und ihrer Verwendung für die politische Propaganda. Mit ihrer Rütli-Schweiz propagiert die SVP eine fiktive, auf sich zurückgezogene Schweiz, die das «böse» Ausland ­bekämpft. Die Geschichtsbasteleien der Partei dienen also als ­Legitimation für ihre fremdenfeindliche Politik. Sie sollen aber auch die reale Geschichte vernebeln. Jene Geschichte der Schweiz, die schon immer über die Landesgrenzen hinausführte.

* Hans Ulrich Jost ist emeritierter Geschichtsprofessor und lebt in Lausanne.

Heldengeschichten: Maissen räumt auf

In 15 Kapiteln umschreibt Thomas Maissen, der Direktor des Deutschen Historischen ­Instituts in Paris, die Geschichte der Schweiz vom 13. Jahrhundert bis heute. Sorgfältig erläutert er, warum der sogenannte Bund von 1291 nur mit Vorbehalt als Gründung der Schweiz interpretiert werden kann. Er zeigt, dass Wilhelm Tell erst 200 Jahre später erfunden wurde und warum man die Habsburger kaum als Erbfeinde der Eidgenossen bezeichnen kann. Der Autor ­behandelt auch die oft missbräuchlich verwendeten Stichworte wie Unabhängigkeit, Neutralität und militärische Kampfbereitschaft. 

Thomas Maissen schreibt die Geschichte der Schweiz nicht neu. Er zeigt in seinem Buch aber eindrücklich, wie die verschiedenen Epochen heute von der Geschichtswissenschaft interpretiert werden. 

Thomas Maissen: Schweizer Heldengeschichten – und was dahintersteckt. Hier und Jetzt, Baden 2015, 240 Seiten, Fr. 29.–.

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