Unia-Industriechef Yves Defferrard (59) zum US-Zoll
«Es ist nicht so katastrophal, wie dies Unternehmerkreise darstellen»

Für Yves Defferrard ist der neue US-Zoll kein Grund zur Panik. Mehr Sorgen bereiten ihm die Arbeitgeber und die Verhandlungsführung des Bundesrates.

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YVES DEFFERRARD KRITISIERT DEN BUNDESRAT: «Die einseitige Beteiligung von Konzern- und Finanz­interessen ist ein No-Go! Die Gewerkschaften müssen auf jeden Fall einbezogen werden.» (Foto: Marco Zanoni) 

work: Herr Defferrard, wie war Ihre erste Reaktion auf den neuen US-Zoll für die Schweiz?
Yves Defferrard: Dieser Zoll von 39 Prozent ist natürlich sehr ärgerlich, denn er benachteiligt die Schweizer Industrie einseitig und auf eine willkürliche Weise. Aber wir sollten nicht in Panik verfallen. Ich kenne die Schweizer Industrie seit 30 Jahren und habe schon verschiedene Krisen miterlebt. Vom starken Franken ist die ganze Exportwirtschaft betroffen. Hier sprechen wir nur von den Exporten in die USA, das betrifft 17 Prozent der exportierten Produkte. Diese Zahl ist wichtig und wurde in den letzten Wochen häufig übertrieben.

Der Arbeitgeberverband Swissmem spricht von einem «Horrorszenario». Ist das alles Panikmache?
Es ist auf jeden Fall nicht so katastrophal, wie dies Swissmem und Unternehmerkreise darstellen. Sie wollen von der Krise profitieren und fordern Deregulierung – und meinen damit die Erhöhung der Arbeitszeit, weniger Auflagen, weniger Steuern. Es ist das klassische Programm der Rechten. Das geht nicht!

Sie befürchten also nicht den Verlust von Zehntausenden von Arbeitsplätzen?
Wenn es zu Entlassungen kommt, werden wir dies genau analysieren und bei Bedarf dagegen ankämpfen. Der Zoll darf keinesfalls als Vorwand für Entlassungen und die Auslagerung der Produktion dienen. Wir haben in der Schweiz zum Glück das Mittel der Kurzarbeit. So zahlt die Arbeitslosenkasse einen Grossteil der Löhne von Unternehmen, die zwischenzeitlich in Schwierigkeiten sind. Wir fordern zusammen mit den Arbeitgebern die Ausweitung der Maximalbezugsdauer von 18 auf 24 Monate. In dieser Zeitspanne können auch neue Absatzmärkte gefunden werden, um die Abhängigkeit von US-Exporten zu reduzieren.

KEINE PANIK: Der Unia-Industriechef sagt, der Zoll dürfe keinesfalls als Vorwand für Entlassungen genutzt werden. (Foto: Marco Zanoni) 

Also sollte man sich in der Schweizer Industrie einfach mit diesem neuen Zoll abfinden?
Nein, man sollte mit den USA auf jeden Fall weiterverhandeln, aber ohne die Auslagerung von Stellen und ohne Versprechen von Milliarden-investitionen in den USA. Zudem gibt es bei der Anwendung der Zölle auch noch Spielraum. Die Unternehmen haben zum Teil Lagerbestände in den USA angelegt, oder sie können die Zollbelastung mit «tariff engineering» reduzieren. 

Was ist «tariff engineering»?
Zum Beispiel müssen Serviceleistungen oder Lizenz- und Markenrechte nicht verzollt werden, wenn sie von den exportierten Produkten abgegrenzt werden können. Die grossen Firmen haben eigene Abteilungen, um ihre Zollbelastung so zu reduzieren. Kleine und mittelgrosse Unternehmen sind hier benachteiligt. Der Bund sollte dafür sorgen, dass auch sie entsprechende Beratungen der staatlich finanzierten Exportförderung in Anspruch nehmen können. 

Und wie kann die Unia die Arbeiterinnen und Arbeiter in der Industrie in dieser Situation unterstützen?
Wir sind sehr nah dran über unsere Regionen, und diese Woche organisieren wir ein nationales Treffen für die Personalvertretungen aus der Industrie. Dort zeigen wir, wie die Personalkommissionen mit den Geschäftsleitungen verhandeln können, und informieren über die Möglichkeiten der Kurzarbeit.

FORDERT EINE AKTIVE INDUSTRIEPOLITIK: Yves Defferrard. (Foto: Marco Zanoni) 

Und welche politischen Forderungen hat die Unia an den Bundesrat?
Zusammen mit dem SGB fordern wir ein Treffen zwischen den Sozialpartnern und der Regierung. Der Bundesrat darf nicht allein oder nur mit den Arbeitgebern nach Lösungen suchen. Die bisherige Verhandlungsführung mit dem «Team Switzerland» und der einseitigen Beteiligung von Konzern- und Finanzinteressen ist ein No-Go! Die Gewerkschaften müssen auf jeden Fall einbezogen werden. 

Eine langjährige Forderung der Gewerkschaften ist auch eine staatliche Industriepolitik: Gibt es da noch Hoffnung?
Im Kanton Waadt haben wir eine sozialpartnerschaftliche Industriepolitik, und auch in Genf führen wir Gespräche mit den Chefs von Industriebetrieben und der Regierung. Im Fall von Stahl Gerlafingen und Swiss Steel hat das Parlament auch auf nationaler Ebene für die staatliche Unterstützung einer Schlüsselindustrie gesorgt. 

Dennoch gibt es vom Bundesrat weiterhin keine aktive Industriepolitik …
Leider nein! Für eine richtige Industriepolitik bräuchte es Überlegungen, was kurzfristig, mittelfristig und langfristig gemacht werden muss. Es braucht einen politischen Willen, der den Industriesektor in der Schweiz erhalten will. Und es braucht eine richtige Analyse mit den Sozialpartnern über die Unternehmen und Produkte, die für die Schweiz unverzichtbar sind. Wir haben mit dem Krieg in der Ukraine weiterhin eine Situation, die sehr fragil ist, und auch Covid hat gezeigt, wie schnell Versorgungsprobleme entstehen können. Wir brauchen nicht nur ein Bundesamt für Landwirtschaft, wir brauchen endlich auch eines für Industrie. Und es braucht einen Fonds für diejenigen Industrien, die uns wichtig sind.

Gibt es Vorbilder für solche Staatsfonds?
Ja, Japan und Singapur haben starke Staatsfonds. Und auch in den USA werden Indus-trieunternehmen staatlich finanziert. In der Schweiz haben wir auch ein Unternehmen, das durch den Staat finanziert wird und halbprivat ist: Das ist der Waffenfabrikant Ruag. Warum kann man das im militärischen Bereich machen und nicht für den Klimaschutz? Und warum investieren wir mit unserer Nationalbank weiterhin Milliarden in die Aktien von US-Unternehmen statt in den ökosozialen Umbau und Arbeitsplätze in der Schweiz? Diese Fragen müssen wir uns heute stellen! Und der Bundesrat muss endlich die richtigen Antworten geben. 

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