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Chauffeur Reto Plattner (52) bringt Zürcher Beizen und Sommerfesten Flüssig-Nachschub

Seit 20 Jahren liefert Chauffeur Reto Plattner in Zürich Getränke aus. In der Firma Inter Comestibles gehören Sitzungen im Kollektiv genauso zum Job wie Harassen schleppen.  

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WOLLTE NICHT INS BÜRO: Getränkelieferant Reto Plattner. (Foto: Michael Schoch)

Im Jahr 1987 gründete der Krimi-Autor Stephan Pörtner den Getränke- und Lebensmittelladen Inter Comestibles (IC) im Zürcher Kreis 4. Ganz so lange ist Reto Plattner noch nicht dabei. Vor 20 Jahren kam der gebürtige Basler nach Zürich, wo er über Kontakte aus der globalisierungskritischen Bewegung zum Job beim mittlerweile grössten Stadtzürcher Getränkelieferanten fand. Als gelernter Buchhändler habe er wenig handwerkliche Erfahrung gehabt, sagt Plattner. «Aber ich wollte körperlich arbeiten und nicht ins Büro. Da war die Arbeit als Chauffeur genau das Richtige für mich.» 

GROSSER VORRAT: Das Getränkelager im Zürcher Binzquartier. (Foto: Michael Schoch)

Neue Stadt, neuer Job

Vieles war neu für ihn: die Stadt, die Strassen, die Arbeit mit dem Palett- und dem Harass-Rolli. Den Auftrag rechtzeitig an den richtigen Ort zu liefern und den Lastwagen ohne Schäden und Unfall durch die Stadt zu kurven, das sei zu Beginn stressig gewesen. Heute ist das anders, Plattner kennt Zürich wie seine Westentasche, ebenso die Fahrzeuge und das Getränkelager im Zürcher Binzquartier. Seinen Arbeitstag beginnt er zwischen sechs und halb acht Uhr morgens. Die Ware ist durch den Lageristen bereitgestellt, und der Disponent vergibt die Aufträge. Die Auslieferung der Getränke mit einem grossen Lastwagen kann bis zu einem ganzen Tag in Anspruch nehmen. Wenn Plattner früher fertig ist, meldet er sich in der Zentrale, um die Kolleginnen und Kollegen zu unterstützen. 

KENNT DIE ZÜRCHER STRASSEN: Chauffeur Plattner. (Foto: Michael Schoch)

Lager einräumen, Leergut mitnehmen

Plattner sagt:

Am strengsten ist es im Hochsommer, vor allem am Donnerstag und rund um das Wochenende, wenn wir Festbänke und Zapfmaterial liefern.

Bei den Restaurants und Bars, die Plattner beliefert, muss er das Material auch ins Lager einräumen und das Leergut mitnehmen. Plattner sagt: «Die Lagerräume sind oft eng, und die Folgen der Arbeit merke ich auch körperlich.» Nach einem anstrengenden Tag ist aber nicht unbedingt Feierabend.

Aktiengesellschaft im Besitz der Mitarbeitenden

Inter Comestibles ist eine Aktiengesellschaft, die Mehrheit der Aktien besitzt der Verein der Mitarbeitenden. Er heisst Sapeurs-Pompiers – französisch für Brandlöscher. Plattner sagt: «Wir haben Arbeitsgruppen und zwei Vereinssitzungen pro Jahr.» Da müssen alle Mitglieder teilnehmen. Für Plattner ist das aber nicht nur eine Pflicht, sondern auch einer der Gründe, warum er der Firma so treu verbunden bleibt. Er sagt:

Ich finde es lässig, grosse Autos zu fahren. Aber ich arbeite hier, weil ich hier verwurzelt bin und es auch ein sozialer Ort der Utopie ist.

Für strategische Entscheidungen der Geschäftsleitung braucht es die Zustimmung des Vereins.

Syndicom und Routiers Suisses

Plattner ist als gelernter Buchhändler Mitglied der Gewerkschaft Syndicom. Aber auch bei Les Routiers Suisses macht er mit, dem Verband der Chauffeure und Berufsfahrerinnen. Plattner sagt: «Solche Strukturen für Arbeiterinnen und Arbeiter finde ich sehr wichtig, auch wenn ich bei Routiers Suisses politisch mit vielem nicht einverstanden bin.» Besonders stossend findet Plattner die tiefen Löhne und die zum Teil katastrophalen Arbeitszeiten in der Branche. Statt eines nationalen Mindestlohnes gibt es viele regionale Unterschiede, wobei das Minimum für Lastwagenchauffeure meist unter 5000 Franken liegt. Der Verkehr in der Stadt Zürich stresse ihn dagegen nicht mehr, auch wenn zu viele und vor allem auch übertrieben grosse Autos auf den Strassen von Zürich unterwegs seien. 

RETO PLATTNER KRITISIERT DIE LÖHNE IN DER BRANCHE: Bei seinem Arbeitgeber hingegen wird das Geld fair verteilt. (Foto: Michael Schoch)

2940 Franken Lohn

Beim IC gibt es drei Lohnstufen mit je einem einheitlichen Lohnsystem: für die Geschäftsleitung, für Leute mit Zwischenverantwortung sowie für alle anderen Mitarbeitenden. Am Ende des Monats hat Plattner mit seinem Pensum, das er wegen seiner beiden Pflegekinder von 80 auf 50 Prozent reduziert hat, 2726 Franken auf dem Konto. Brutto liegt der Lohn bei 2940 Franken, und die Firma zahlt alle Sozialleistungen. Plattner sagt:

Die Gesellschaft ist auf uns Chauffeure angewiesen wie auf die Arbeit der Leute in der Pflege. Da wird vielleicht mal geklatscht, aber meistens schlecht bezahlt.

Ein wesentlicher Unterschied gibt es aber: Da beim IC das letzte Wort bei den Mitarbeitenden liegt, schaut am Ende mehr raus. So lag 2024 wegen des guten Geschäftsjahrs nicht nur ein 13. Monatslohn für alle drin, sondern obendrauf noch ein Bonus. 

Heute arbeiten 98 Personen bei Inter Comestibles. Damit ist der Getränkelieferant neben der Wochenzeitung WOZ einer von wenigen Betrieben mit Einheitslöhnen in der Stadt Zürich, die im Besitz der Mitarbeitenden sind und seit vielen Jahren erfolgreich wirtschaften. 

Alarmphone und Pflegekinder

Reto Plattner lebt mit seiner Partnerin und zwei Pflegetöchtern im Alter von sechs und sieben Jahren in der Gemeinde Wald im Zürcher Oberland. In einem alten Bauernhaus haben sie eine bezahlbare Sechszimmerwohnung inklusive Gemüsegarten gefunden. Mit seiner Familie macht Plattner am Wochenende gern Ausflüge zu Freunden und Freundinnen oder in die nahegelegenen Wälder. 
 
Früher war Plattner in der linken Politszene aktiv und lebte in Gross-WGs. Er war auch oft auf Reisen und engagierte sich beim Aufbau von Watch the Med Alarmphone. Das internationale Netzwerk betreibt seit 2014 ein selbstorganisiertes Call-Center für Geflüchtete, die auf dem Mittelmeer in Seenot geraten. Plattner betreute in Zürich das Notruftelefon und organisierte Soforthilfe für Bootsflüchtlinge. 
 
Im Moment liest der gelernte Buchhändler das Buch «Was ich dir nicht sage» der Schweizer Soziologin Anja Glover. Es sei ein wichtiges und aktuelles Buch über Rassismus in der Schweiz, das ihm aufzeige, dass er trotz seinem aktivistischen Leben zu dem Thema noch viel lernen könne. Auch die Bücher des italienischen Kollektivs Luther Blissett / Wu Ming hat Plattner verschlungen. Sie seien hilfreich für ein neues Verständnis der linken Geschichte – und damit der eigenen Herkunft. 

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