«Gewerkschaftswüste» Dienstleistungssektor? Wo die Unia heute steht
Jeden Tag drei neue Mitglieder

Die Tieflöhne auf breiter Front angehoben, im Gastgewerbe einen 13. Monatslohn, zwei neue GAV, Tausende neuer Mitglieder: In den Dienstleistungsberufen konnte die Unia einige Pflöcke einschlagen. Doch sie hat nicht alle Ziele von 2005 erreicht.

GASTRO MACHT GLÜCKLICH: Die Konsumentinnen freuen sich, wenn ihnen das Bier nicht ausgeht. Dass auch die Frauen und Männer im Service anständig entlöhnt werden, dafür setzt sich die Unia ein. (Foto: Keystone)

In Bau und Industrie arbeiten heute noch 20 Prozent der Erwerbstätigen in der Schweiz, in der Landwirtschaft nur noch 2 Prozent. Dominiert wird die Wirtschaft von den Dienstleistungen, mit 78 Prozent der Arbeitskräfte.

Schon als die Unia entstand, war das ähnlich. Der Anteil der Dienstleistungen, auch ­Tertiärsektor genannt, war ­damals schon bei 73 Prozent. Doch die Gewerkschaften, stark in Bau, Industrie und Service public, hatten diesen Boom verschlafen. So entstanden ab 1960 im Verkauf, im Gastgewerbe oder in den Altersheimen aus gewerkschaftlicher Sicht riesige Wüsten mit vielerorts miesen Arbeitsbedingungen, von denen mehrheitlich Frauen betroffen waren. Diese Wüsten zu begrünen: das war eins der Hauptziele, die sich die Gründerväter und -mütter der Unia gaben. Wo steht die Gewerkschaft heute?

Mitglieder: Kräftiges Wachstum

Was die Mitgliederzahlen angeht, ist klar: Ja, die Unia hat in den Dienstleistungsberufen kräftig zugelegt. Unter dem Strich ist sie um gut 23 000 Mitglieder stärker geworden (siehe Grafik). Das sind im Schnitt während 20 Jahren jeden Tag mehr als drei! Nicht neu geworbene Mitglieder, sondern der Nettozuwachs, Austritte und Todesfälle bereits abgezogen. Am meisten neue Mitglieder kamen aus dem Gastgewerbe. 2008, am ersten Unia-Kongress, war die Branche mitgliedermässig erst an sechster Stelle. Heute belegt sie mit rund 13 000 Mitgliedern den zweiten Platz gleich hinter dem Bauhauptgewerbe.

Aber konnte die Gewerkschaft auch die Arbeitsbedingungen in den Berufen verbessern, die sie organisiert? Véronique Polito arbeitet seit 2007 für die Unia, also fast seit der Gründung. Sie sagt:

Gerade bei den tiefsten Löhnen haben wir sehr viel bewirkt.

Eine wichtige Voraussetzung dafür schuf die Unia sogar noch, bevor es sie offiziell gab. Ab 1996 hatten die Gewerkschaften GBI und Smuv eine neue Gewerkschaft mit dem Namen «unia» aufgebaut. Von Beginn weg führte die «kleine unia» eine kämpferische Kampagne gegen Tiefstlöhne im Gastgewerbe und gewann in kurzer Zeit mehrere Tausend Mitglieder. Dank denen schaffte es die junge Gewerkschaft 2003, als Vertragspartnerin des Gastro-GAV anerkannt zu werden. Ein wichtiger Schritt, sagt Polito:

Das war der grösste Gesamtarbeitsvertrag der Schweiz.

Die Unia führt die Arbeit weiter. Und 2012, nach einer zähen Auseinandersetzung, gelingt ein Durchbruch: Der 13. Monatslohn wird im Gastgewerbe Tatsache. Es ist die Zeit, in der die Unia den Dienstleistungssektor entscheidend voranbringt. Mit der Forderung «keine Löhne unter 4000 Franken» lanciert sie 2011 zusammen mit dem Gewerkschaftsbund eine Volksinitiative für einen nationalen Mindestlohn. Sie stellt Firmen mit Tieflöhnen an den Pranger, was in den Medien und der Bevölkerung viel Anklang findet.

Trotz Niederlage an der Urne habe die Kampagne in Verhandlungen enorm geholfen, sagt Polito: «Die Arbeitgeber wollten damals nicht schlecht dastehen.» Eine Aussage, wie sie der ­Arbeitgeberverbandsdirektor kürzlich machte, Leute mit Tieflohn sollten halt aufs Sozialamt – «das war noch vor zehn Jahren undenkbar».

So können die Unia und andere Gewerkschaften in vielen Branchen einen starken Anstieg der Mindestlöhne aushandeln. Nicht nur im Tertiär, aber besonders da. Im Lebensmittel-Detailhandel, im Gastgewerbe, in der Reinigung, in der Sicherheits- und der Coiffurebranche. Letztere bleibt zwar lohnmässig hinter anderen Branchen zurück, knackt aber 2025 endlich auch für Ungelernte die 4000er-Marke.

Neuland: Tankstellen und Temporäre

Der Anstieg der Löhne ist nicht der einzige Erfolg in dieser Zeit: In zwei bisher kaum regulierten Bereichen handelt die Unia neue, allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge aus. 2012 tritt der GAV für Temporärarbeit in Kraft. Für den Tertiär sei der heute wichtiger denn je, sagt Véronique Polito: «Im Gastgewerbe, in der Pflege und in der Logistik setzen Firmen mehr und mehr Temporäre ein. Der GAV ist ein Bollwerk gegen Lohndrückerei.» 2018 folgt ein neuer GAV für Tankstellenshops. Das ist historisch: Erstmals überhaupt gilt im Detailhandel ein landesweiter GAV.

Zwei Misserfolge

Gab es auch Misserfolge? Klar, sagt Polito. Die Unia wollte Vertragspartnerin des GAV im Strassentransport werden. «Da haben wir auf Granit gebissen.» Sowohl mit Arbeitgeber- wie auch Arbeitnehmerseite sei die Zusammenarbeit schwierig gewesen. Ebenfalls schmerzlich: Bei der Gründung war eines der Ziele ein landesweiter Rahmen-GAV im Detailhandel. Ein solcher ist nicht in Sicht. Polito: «Wir hatten und haben kein richtiges Gegenüber für Verhandlungen.» Es gebe keinen starken Branchen-Arbeitgeberverband. Bei den Grossverteilern Migros, Coop, Aldi und Lidl herrsche Konkurrenzdenken, sie zeigten kein Interesse an gemeinsamen Regeln.

Die von Beginn weg hohe Mitgliederzahl im Detailhandel wächst weiter. Der Verkauf sei seit Jahren im Umbruch, sagt Polito. Nach wie vor gut verankert sei die Unia bei den Grossverteilern, besonders im Bereich Lebensmittel. «Bei Coop haben es in den letzten Jahren alle gemerkt: Wenn sich die Leute zusammenschliessen, können sie viel erreichen!»

Pflege: Von null auf  …

Am schnellsten gewachsen ist die Unia in der Langzeitpflege. Vor etwa fünfzehn Jahren habe man praktisch bei null angefangen, so Véronique Polito. Heute seien über 6000 Pflegende, Praxis­assistenten, Laborantinnen usw. Unia-Mitglieder.

Spätestens die Covid-Krise habe allen klargemacht, dass diese Menschen bessere Arbeitsbedingungen nötig hätten. Polito sagt: «Es war der richtige Entscheid, dass wir in dieser Branche ­einen Fokus setzen.» Die Schwierigkeit liege jetzt darin, dass es auf Arbeitgeberseite kaum einen Willen zur Sozialpartnerschaft gebe. Wegen der Finanzierung durch Krankenkassen und öffent­liche Hand spiele in dieser Branche auch die ­Politik eine grosse Rolle. «Unser Ziel ist es, den Pflegenden auch in der Politik mehr Gehör zu ­verschaffen.» 

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.