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Rapper Stress (47): Der lange Weg zum fertigen Song

Vor seinem Konzert am Unia-Fest verrät Rapper Stress, wie lange er an einem Song arbeitet. Warum sein Künstlername perfekt zu ihm passt. Und er verspricht: Nächstes Jahr gibt’s ein neues Album – und noch etwas dazu.

Rapper Stress (47) fühlt sich mit den Werten der Unia verbunden.

Zwanzig Jahre Unia, das sind auch zwanzig Jahre Stress als feste Grösse in der Schweizer Musiklandschaft. Der Rapper, geboren in Estland und gross geworden in Lausanne, macht zwar schon seit Teenagerzeiten Musik. Der Durchbruch gelang ihm aber 2005 mit seinem zweiten Soloalbum und Songs wie «Libéré» oder «Accroche-toi». Und jetzt spielt Stress ein Konzert exklusiv für die Unia-Mitglieder, am grossen Jubiläumsfest vom 5. Juli. Die Verbindung mit der Gewerkschaft geht aber tiefer als eine Jahreszahl. Der 47jährige sagt:

Ich habe als Künstler Werte, für die ich einstehe. Die Unia hat die gleichen Werte.

Pingpong

work hat ihn in Zürich getroffen. Zuerst wollten wir wissen, wie seine Songs entstehen. Am Anfang, sagt Stress, stünden meist nur ein paar Töne von seinem Freund und Sparringpartner Gabriel Spahni, dem Bassisten der Band «Pegasus». Was dann passiert, beschreibt Stress so: «Er macht Aufnahmen, ich spiele damit rum – und irgendwann habe ich eine Idee. Die spiele ich ihm vor, er entwickelt sie weiter. Es ist ein Pingpong.» Bis beide finden: Okay, jetzt haben wir den Song, zumindest die grobe Form. Dann erst setzt sich Stress hin und schreibt den Text. Allein.

Er arbeitet immer an mehreren Songs gleichzeitig. Am Anfang hat er zehn bis fünfzehn Stücke «im Tank», wie er sagt. Mit der Zeit zeigt sich, was funktioniert und was nicht. Bis nur noch die drei oder vier besten übrigbleiben. «An denen arbeiten wir weiter, bis wir zufrieden sind.» Der ganze Prozess könne nach einem Monat fertig sein – oder erst nach zwei Jahren. Wenn die Songs im Kasten sind, beginnen Stress und Spahni mit der nächsten Ladung. «Und am Schluss, bevor das Album rauskommt, schmeissen wir von den fertigen Songs nochmals die Hälfte raus.»

Zehn Jahre

Vom Stück «Bye», das 2021 herauskam, habe er immer und immer wieder eine neue Version gemacht. «Es ging um eine Frau. Ich war mir sicher: Etwas ist richtig an diesem Song. Aber er war noch nicht perfekt.» Nach zehn Versionen, die ihn nicht überzeugen, lässt er die Frau weg, tüftelt weiter. Am Schluss handelt der Song von der Depression. In der Biographie «179 Seiten Stress» sagt er, die Krankheit habe sich ab 2017 «wie ein Nebel» über sein Leben gelegt:

Du machst zwar weiter, aber eigentlich ist alles egal. Ich kackte komplett mit der Musik ab und war ziemlich sicher: Es ist vorbei mit Stress.

War es nicht. Mit einer Therapie fand Stress nach zwei Jahren aus der Depression heraus. Und fand für den Song «Bye» die endgültige Form: «Wir haben im ganzen sicher dreissig Versionen gemacht. Bis wir endlich merkten: Jetzt haben wir’s.»

Schatz

Und dieser Moment, «eine Entdeckung», das sei das Schönste überhaupt an seinem Beruf. «Als Musiker bist du wie Indiana Jones. Du weisst nie: Finde ich heute einen Schatz?» Und ja, wie bei Indiana Jones sei die Suche stressig. Er grinst breit und sagt: «Mein Name ist Stress. Es ist, wie es ist.» Um diese Schätze zu finden, müsse er das Unangenehme aushalten. «Get comfortable with the uncomfortable», sagt Stress.

Der, wie er work verrät, an einem neuen Album arbeitet. «Der Plan ist, dass es im nächsten Frühling rauskommt. Ein paar Songs sind schon fertig.» Werden die Unia-Mitglieder am 5. Juli einen davon hören?

Nein. Die Band kennt die Songs noch nicht. Und ich bin Perfektionist.

Stress-Fans können sich nicht nur auf neue Musik freuen. Der Rapper lüftet gleich noch ein Geheimnis: Ein weiteres Buch sei auch in Arbeit. «Während der Depression war ich in der Therapie oft verloren und sah keinen Ausweg. Geholfen haben mir Bücher zum Thema.» Er, der als Kind und Jugendlicher traumatische Dinge erleben musste und heute sagt: «Ich lebe gut» — er will Menschen in einer ähnlichen Krise weitergeben, was er auf seinem Weg gelernt hat. Und wieder ein treffender englischer Ausdruck: Im Buch gehe es um «how to manage stress.»

Am Anfang des work-Interviews hatte der Musiker gesagt, er habe in einer Stunde den nächsten Termin. Die Zeit ist längst vor­über. Aber Stress ist nicht gestresst – oder lässt es sich nicht anmerken. Er nimmt sich Zeit, um das zu sagen, was ihm wichtig ist.

Blocher

Wie damals, als die SVP immer offener Fremdenhass und Angst schürte. Es war die Zeit der Plakate mit dem schwarzen Schaf und der Wahl von Christoph Blocher in den Bundesrat. Zusammen mit den Rappern Greis und Bligg spielte er den Song «Fuck Blocher» ein. Stress sagt:

Alle sollen ihre Meinung sagen dürfen. Aber diese Partei hatte eine Grenze überschritten.

Hat es auf dem neuen Album politische Songs? «Ja, aber nicht voll in die Fresse.» Unserer verwirrenden Zeit in einem Song gerecht zu werden komme ihm manchmal unmöglich vor. Er versuche es etwa mit Ironie. «Schau, wir sind Affen mit Maschinengewehren.» Was sind wir? Unser Hirn, erklärt Stress, habe sich seit der Steinzeit nicht verändert, während unser Alltag immer schneller werde. «Wir haben eine Gesellschaft erschaffen, die die meisten überfordert.» Statt in Angst und Egoismus zu verfallen, ruft Stress zum Aufbruch auf: «Wir müssen mutig sein. Wenn wir etwas anderes wollen als heute, müssen wir ein paar Sachen neu machen.»


Stress (47) Die Flucht in die Schweiz

Die Kindheit von Stress «hart» zu nennen wäre eine Untertreibung. Andres Andrekson, wie er bürgerlich heisst, kam in Estland zur Welt. Das Sowjet­system unterdrückte und verachtete die Esten. Der Vater war gewalttätig und hätte einmal den anderthalbjährigen Andres beinahe getötet. Als kleiner Junge wurden ihm im Spital die Rachenmandeln entfernt. Ohne Narkose. Im Alter von elf Jahren flüchtete er mit Mutter und Schwester in die Schweiz. Er studierte Wirtschaft in ­Lausanne. Heute lebt er mit seiner Freundin in Zollikerberg ZH.

Viele Preise

Stress hat bisher zehn Alben veröffentlicht und neun Swiss Music Awards gewonnen, so viele wie niemand sonst. Er verbringe so viel Zeit wie möglich im Studio, sagt er: «Ein Sportler trainiert auch fast immer.» Heute achte er aber auf genügend Ausgleich. Er zählt auf: Täglich Yoga und Spazieren in der Natur. Einmal pro Woche Boxen. Alle zwei Wochen Psychotherapie. Plus eine Kombination von Therapien gegen Rückenschmerzen. Ferien mache er bis Dezember nur eine Woche. «Wandern in den Bergen, mit der Freundin. Von ihr habe ich gelernt, wie schön das ist. Früher habe ich es gehasst.»

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