Kurier Diego Araújo Ferreira Santos (36) bietet Uber & Co. die Stirn
Ausgeliefert: Kurierinnen und Kuriere in Brasilien streiken

Gegen das ­ausbeuterische Geschäftsmodell von Liefer­diensten wie Uber & Co. ­wehren sich auch in Brasilien die Fahrerinnen und Fahrer: Zweimal legten sie bereits den Verkehr in den grössten ­Städten des Landes lahm. Und jetzt tut sich was.

BÜEZER UND AKTIVIST: Essenskurier Diego Araújo Ferreira Santos nimmt nicht einfach hin, wie die Plattformfirmen ihn und seine Kollegen behandeln. (Foto: Niklas Franzen)

Im Zentrum von São Paulo, der grössten Stadt Brasiliens, sitzt Diego Araújo Ferreira Santos neben seiner Honda Fan 160. Ein schwerer Händedruck, «tudo bem?», «alles klar?». Santos, 36 Jahre, akkurater Kurzhaarschnitt, hat nicht viel Zeit. Er müsse heute noch einige Lieferungen machen, sagt er. Dann erzählt er, warum er zusammen mit einigen Mitstreitenden die wichtigsten Strasse der Megametropole lahmlegte.

Santos lebt in der Peripherie São Paulos, die wie ein Wald aus Backstein um die zen­tralen Stadtteile kreist. Sein Tag beginnt früh, fast noch im Morgengrauen. Nachdem er die Kinder zur Schule gebracht hat, schultert er seinen quadratischen Rucksack, öffnet die App und düst los. Santos ist Essenslieferant. Und er ist Teil einer Bewegung, die den Auswüchsen des digitalen Kapitalismus die Stirn bieten will.

Keine Pausen, tiefer Lohn

Nicht erst seit Corona boomen Online-Lieferdienste, verschiedene milliardenschwere Firmen konkurrieren auf dem brasilianischen Markt. Die Unternehmen stellen sich gerne als Wohltäter dar. Ihre Apps würden Jobs schaffen, heisst es. Und tatsächlich bewahren die Plattformen viele ungelernte Brasilia­nerinnen und Brasilianer vor der Arbeitslosigkeit. Allerdings:

Die Fahrerinnen und ­Fahrer arbeiten zwar für multinationale Tech-Firmen wie Uber, sind aber nicht bei ihnen angestellt und haben keine Arbeitsverträge. Im Silicon-Valley-Jargon gelten sie als «Kleinunternehmerinnen und -unternehmer».

Kurier Santos begann im Jahr 2022 Essen auszuliefern. Oft düst er 10 Stunden am Tag durch den Betondschungel São Paulos, um über die Runden zu kommen. Sein Verdienst ist niedrig und variiert von Tag zu Tag. Der Job ist stressig, Pausenzeiten oder Verzögerungen der Auslieferung werden nicht entlohnt.

Null Schutz

Von seinem Lohn muss Santos sein Motorrad warten, Treibstoff bezahlen, Arbeitsmaterialien wie Handys oder Jacken anschaffen. «Sogar meinen Rucksack musste ich kaufen», sagt er. Im dichten und chaotischen Verkehr von São Paulo gibt es ausserdem häufig Unfälle. Vor kurzem stürzte Santos. Für ihn ­bedeutete das: Lohnausfall und Reparaturkosten. Unterstützung der Plattform gab es nicht.

2020, zu Beginn der ersten Coronawelle, ging das Video eines Lieferanten viral. Dort beklagte er seine prekären Arbeitsbedingungen. Viele teilten daraufhin ihre Erfahrungen – und am Ende entstand eine Bewegung:

Sie streikten, Kundinnen und Kunden so­lidarisierten sich und boykottierten sogar einzelne Plattformen.

Für kurze Zeit sah es so aus, als würde sich der Druck lohnen, auch weil die Firmen Besserung versprachen. Doch es änderte sich nur wenig.

Organisation per Whatsapp

Deshalb entschieden sich die Kurierinnen und Kuriere Anfang April dieses Jahres, erneut die Arbeit niederzulegen. In mehreren brasilianischen Städten streikten sie und blockierten Strassen. Die Forderungen: bessere Vergütung pro Lieferung, mehr Transparenz des Unternehmens sowie eine gesetzliche Regulierung der Arbeitsbedingungen.

Per Whatsapp organisierten sich die Fahrerinnen und Fahrer – autonom und ohne die Unterstützung der Gewerkschaften. Von denen sieht sich Santos ohnehin nicht repräsentiert. Brasiliens Arbeitswelt verändert sich, und die traditionellen Gewerkschaften tun sich schwer, damit Schritt zu halten. Aktivistin Gilvania Gonçalves sagt:

Die Gewerkschaften in Brasilien haben nicht erkannt, dass die Fabriken vieler Arbeiterinnen und Arbeiter mittlerweile ihre Motorräder sind.

Gonçalves ist aktiv bei Traba­lhadores sem Direitos (Arbeiter ohne Rechte) und Mitglied der Wohnungslosenbewegung MTST. Für Gonçalves stehen die Motorradkuriere repräsentativ für die Prekarisierung der Arbeitswelt. Sie stehen aber auch dafür, dass es möglich ist, Widerstand zu leisten.

Ende April wurden Santos und seine Mitstreitenden zu einer öffentlichen Anhörung im brasilianischen Parlament geladen. In seine mit gelben Reflektoren geschmückte Motorradjacke gehüllt, redete Santos plötzlich zu hochrangigen Politikerinnen und Politikern. Vertreter der Plattformen waren eingeladen, erschienen aber nicht persönlich. Per Videoschaltung meldete sich ein Unternehmensvertreter und betonte, sich für gute Arbeitsbedingungen einzusetzen. «Mentiroso», Lügner, hallte es daraufhin durch den Saal. Die Gräben sind tief.

Santos will weiter für seine Rechte kämpfen, und notfalls auch wieder die Arbeit niederlegen. Vor allem eine Erhöhung des Lohnes auf mindestens 10 Reais (umgerechnet rund 1,5 Franken) pro Lieferung sind ihm wichtig. Und, wenn nichts passiert? «Dann werden wir auf der Strasse antworten.»

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