Graphic Novel über den allerersten Frauenstreik:
Die Revolte der Zigarrenmacherinnen

Weil die Fabrikherren keine Gewerkschaft tolerieren, treten 1907 die Zigarrenmacherinnen von Yverdon in den allerersten Frauenstreik. Erst ein raffinierter Boykott zwingt die Tabak-Barone in die Knie. Jetzt würdigt eine Graphic Novel die fast vergessenen Vorkämpferinnen.

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DIE ZIGARRENMACHERINNEN IM STREIK: In einer neuen Graphic Novel hat Comic-Zeichnerin Fanny Vaucher den ersten Frauenstreik der Schweizer Geschichte illustriert. (Illustration: Fanny Vaucher)

Dass sie in Yverdon das Sagen hat, zeigt die Linke dort selbstbewusst. Etwa im Oktober 2024: Die Stadt weiht eine neue Fussgängerbrücke beim Bahnhof ein. Sie führt über den Zihlkanal und endet dort, wo früher die Tabakwarenfabrik Vautier Frères stand. Von 1858 bis 1975 wurden dort Zigarren und Zigaretten hergestellt, etwa die berühmten Marocaines. Getauft wird die Brücke «Passerelle des Cigarières». Damit ehrt Yverdon jene rund 60 Zigarrenmacherinnen, die 1907 auf eigene Faust eine Streikbewegung entfachten, die bald das ganze Land beschäftigte. Es handle sich um nichts weniger als «den Beginn des Kampfes für die Verteidigung der Frauenrechte in der Schweiz», so die städtische Mitteilung zur Eröffnungszeremonie.

Feministisch gegen die «Diamanten-Träger»

SPANNENDE NEUERSCHEINUNG: La révolte des cigarières.

Jetzt hat der Verlag Antipodes eine fesselnde Graphic Novel über diesen wenig bekannten Frauenstreik publiziert. Illustriert hat den Band die Lausanner Comic-Zeichnerin Fanny Vaucher (45). Getextet hat der Genfer Journalist Éric Burnand (72). Von ihm stammt auch das historische Nachwort, das den Streik mit spannendem Bildmaterial und bisher unentdeckten Quellen greifbar macht.

Da ist zum Beispiel ein von Hand geschriebener «Aufruf an alle Arbeiterinnen». Verfasst hat ihn Lucy Zingre, eine verarmte Bauerntochter aus dem Jura. 1907 verdingt sie sich als Zigarrenmacherin in der Vautier-Fabrik und versucht so, ihre Kinder über die Runden zu bringen. Doch der Lohn ist miserabel. Und die sechs Mal elf Stunden pro Woche in der staubigen Fabrik schlagen auf die Bronchien. An der sogenannten Tabaklunge leiden fast alle Vautier-Arbeiterinnen, ihre Lebenserwartung ist deutlich tiefer als bei der übrigen Bevölkerung.

Zingre will das nicht akzeptieren. Wohl mit Hilfe ihres Nachbars, eines anarchistisch gesinnten Gemeinderats, verfasst die 27jährige eine Kampfschrift:

Teure Kameradinnen, wir sind immer noch Leibeigene, die vor jenen kriechen, die Rubine und Diamanten tragen, die aus dem Schweiss der Ausgebeuteten gefertigt sind.

Speziell die Frau werde von den Herren Kapitalisten «als niederes Wesen» betrachtet. Ihr würden «die schwersten Arbeiten auferlegt», aber nur «die Hälfte eines Männerlohns gezahlt». So könne es nicht weitergehen. Es sei höchste Zeit, «das Joch abzuwerfen, das den Mann und vor allem die Frau seit Jahrhunderten unterdrückt». Das Flugblatt wird beschlagnahmt.

Macho-Büezer rümpfen die Nase

Zingre und sieben mutige Kolleginnen gründen eine Gewerkschaft. Das ist zwar ihr verfassungsmässiges Recht, doch nicht im Sinn der Familie Vautier. Sie wirft alle Organisierten raus, worauf diese zum Streik rufen. 60 von 180 Arbeiterinnen machen mit. Es ist der erste Arbeitskampf beim mächtigsten Arbeitgeber der Stadt. Und der erste Streik der Schweiz, an dem nur Frauen teilnehmen. Vor den Fabriktoren tummeln sich die Schaulustigen. Das Bürgertum tobt und stellt sich ganz hinter den stinkreichen Vautier-Clan. Dieser verlangt Polizeischutz, später auch Militär. Beides wird prompt geliefert. Verhaftungen, Ausweisungen, immer mehr Druck auf die Streikenden… zumal auch viele Büezer die Nase rümpfen. Die «Frauenzimmer» wüssten ja doch nicht, wie Klassenkampf gehe, nörgeln sie. Doch es gibt auch Solidarität. Etwa von den benachbarten SBB-Arbeitern. Und aus Bern trifft Margarethe Faas-Hardegger ein.

Margarethe Hardeggers Erfolgsrezept

Sie ist die erste Sekretärin beim Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB), eine charismatische Agitatorin, radikale Feministin und hochbegabte Organisatorin. Sofort versteht sie: Die Streikbeteiligung ist zu tief, Angst und Druck zu gross. Also schaltet Hardegger einen Gang höher: Boykott aller Vautier-Produkte! Die Parole verbreiten bald sämtliche SGB-Verbände – schweizweit! Die Arbeiterpresse mahnt:

Kamerad, wenn du Marocaines rauchst, bist du ein falscher Bruder, ein Verräter!

Die Disziplin der rauchenden Arbeiterschaft ist hoch. Vautier verzeichnet massive Umsatzeinbrüche. Und dann macht Hardegger den Sack zu: Sie gründet einer Kooperative, in der nur Vautier-Streikende arbeiten, ohne Chef, mit besserem Lohn und kürzerem Arbeitstag als früher. Ihr Produkt: «La Syndicale», eine Zigarette, hergestellt aus Tabak einer Aargauer Arbeiterkooperative. Das Modell ist so erfolgreich, dass Vautier im Juli 1909 einknickt beziehungsweise beim VHTL anklopft, einer Vorgängergewerkschaft der Unia. Vautier bietet an, die Löhne anzuheben und den VHTL im Betrieb zu tolerieren, wenn dieser dafür den Boykott aufhebt.

Der Deal wird besiegelt – gegen den Willen von Hardegger und den Streikenden, die ausgesperrt bleiben. Ihre Kooperative überlebt noch bis 1913, Lucy Zingre bis 1914. Sie stirbt 34jährig, völlig verarmt, an einer wohl berufsbedingten Lungenentzündung. Der VHTL und Vautier dagegen führen ihre Sozialpartnerschaft noch jahrzehntelang weiter. Dass diese nur dank Streikführerin Zingre möglich wurde, verschweigen beide zeitlebens.
 
Burnand, Éric; Vaucher, Fanny: La révolte des cigarières, Editions Antipodes, Lausanne 2025, 200 Seiten, 35 Franken, nur auf französisch.

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