Proteste gegen Sparpläne in der Waadt
«Der Kanton erzeugt ein künstliches Defizit»

Es sind die grössten Mobilisierungen und Streiks im öffentlichen Dienst seit Jahrzehnten. Die in mehreren Westschweizer Kantonen angekündigten Sparmassnahmen lösten einen Aufschrei unter den Staatsangestellten aus. Sébastien Guex, Honorarprofessor für Zeitgeschichte an der Universität Lausanne und Experte für öffentliche Finanzen und Steuerwesen, analysiert die Situation.

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STAATSANGESTELLTE GEHEN IN LAUSANNE AUF DIE STRASSE: Professor Sébastien Guex ordnet ein. (Foto: Keystone)

work: Sébastien Guex, ist eine Mobilisierung des öffentlichen Dienstes in diesem Ausmass eine Premiere in der Schweiz?
Sébastien Guex: Man muss bis zu den Sparmassnahmen Mitte der 1990er Jahre zurückgehen, um eine ähnlich beeindruckende Mobilisierung im öffentlichen Dienst zu finden, insbesondere in den Westschweizer Kantonen. Damals war die Bewegung in Genf stärker als im Kanton Waadt. Zehntausende Menschen gingen auf die Strasse. Aber die aktuelle Mobilisierung der Beamten im Kanton Waadt ist beispiellos, insbesondere im Bildungswesen.

Wie erklären Sie sich diese Entschlossenheit?
Weil der Sparplan des Waadtländer Staatsrats einfach unverständlich ist. Die Menschen sehen, dass es im Kanton Waadt keine Finanzkrise gibt. Dass der Kanton seit zwanzig Jahren jährliche Überschüsse in Höhe von 300, 400 oder 500 Millionen Franken erzielt. Jede Finanzministerin eines beliebigen Landes würde lachen, wenn sie hören würde, dass die Finanzen des Kantons Waadt schlecht stünden.

Das hat also nichts mit der Situation in Frankreich zu tun, wo ebenfalls eine heftige Haushaltsdebatte tobt?
Absolut nichts. In Frankreich lag die Nettoverschuldungsquote, also die Bruttoverschuldung abzüglich der Staatsvermögen, Ende 2024 bei 105 Prozent. Mit anderen Worten: Die Nettoverschuldung Frankreichs entspricht 105 Prozent seines BIP. Der Kanton Waadt hat nicht nur keine Nettoverschuldung, sondern verfügt auch über ein Nettovermögen von rund 3,6 Milliarden Franken, was 4,1 Prozent seines BIP entspricht. Zum Vergleich: Der europäische Durchschnitt liegt bei einer Nettoverschuldungsquote von 75 Prozent. Die Vereinigten Staaten liegen bei 97 Prozent, Japan bei 135 Prozent.

Hat der Staatsrat des Kantons Waadt also ein zu düsteres Bild gezeichnet?
Ja. Und dann gab es noch die Affäre Dittli (Anm. d. Red.: benannt nach der Staatsrätin Valérie Dittli). Die Affäre hat offenbart, dass der Steuerdeckel, der die Besteuerung der Superreichen nach oben begrenzt, dreizehn Jahre lang nicht gesetzeskonform angewendet wurde. Dadurch konnten die wohlhabendsten Steuerzahler illegal zwischen 500 Millionen und einer Milliarde Steuern einsparen. Und manche haben noch die Frechheit, sich zu beschweren, wenn die Verwaltung endlich beschliesst, diesen Fehler zu korrigieren! Es gibt also Superreiche, die über dem Gesetz stehen und den Kanton viel Geld kosten. Und dann haben wir dieses Defizit, das von der Kantonsregierung künstlich erzeugt wurde.

Ein künstlich erzeugtes Defizit? Das ist doch übertrieben.
Wenn die Waadtländer Regierung beschliesst, die Abschreibung der Ausgaben für das Verwaltungsvermögen zu beschleunigen, obwohl sie sich problemlos noch ein oder zwei Jahre Zeit lassen könnte, ist das eine völlig willkürliche Entscheidung, die jedoch dazu dient, das Defizit künstlich zu vergrössern. Ebenso könnte die Kantonsregierung sehr wohl beschliessen, mehr aus dem umfangreichen Finanzvermögen des Kantons zu entnehmen, um das Defizit zu verringern. Das ist so, als würde ein Eichhörnchen, das 10 Kilo Nüsse für den Winter auf Vorrat hat, sagen: Nein, ich esse nur ein Kilo. Das ist absurd.

Die Waadtländer Regierung will die Gehälter der Staatsangestellten um 0,7 Prozent kürzen, als «Krisenbeitrag». Gab es so etwas schon einmal in der Vergangenheit?
Der Begriff «Krisenbeitrag» ist völlig unangebracht. Wie ich bereits gesagt habe: Es gibt keine Krise der öffentlichen Finanzen im Kanton Waadt. Und ja, das ist in der Vergangenheit schon oft vorgekommen. Die wichtigste Reaktion von Arbeitgebern und Führungskreisen bei Defiziten ist es, die Gehälter der Staatsangestellten zu kürzen, statt die Steuern für Reiche zu erhöhen.

Das Problem beschränkt sich nicht nur auf den Kanton Waadt. Genf rechnet mit einem Defizit von über 700 Millionen, das grösstenteils auf Steuersenkungen zurückzuführen ist. Frankreich, das vor einigen Jahren die Vermögenssteuer abgeschafft hat, ist bis über beide Ohren verschuldet. Hat man zu viele Steuergeschenke gemacht?
Heute gibt es eine Konzentration des Reichtums, was logisch ist, da die Steuern für die vermögendsten Steuerzahler stark gesenkt wurden. Forscher aus den Bereichen öffentliche Finanzen und Soziologie der Universität Luzern haben die Entwicklung des Steuersatzes für die Reichsten in der Schweiz über einen Zeitraum von etwa sechzig Jahren untersucht. Dieser ist von 0,82 Prozent Mitte der 1960er Jahre auf heute etwa 0,5 Prozent gesunken. Gleichzeitig stellten sie fest, dass der Anteil der ein Prozent Reichsten am nationalen Vermögen von 38/39 Prozent auf heute 43 Prozent gestiegen ist. Es ist faszinierend zu sehen, wie sehr die beiden Kurven übereinstimmen. Auf der einen Seite wird uns gesagt, dass die öffentlichen Finanzen schlecht stünden, und auf der anderen Seite wird das Loch durch Steuersenkungen für die Reichsten noch grösser. Wem will man damit etwas vormachen?

Gibt es keinen Konsens mehr über das Prinzip der Umverteilung von Reichtum?
Ich beschäftige mich seit vierzig Jahren mit Steuerwesen und öffentlichen Finanzen. Ich bin zu dem Schluss gekommen, von dem ich zu Beginn meines Studiums und sogar noch vor zwanzig Jahren weit entfernt war: Die Grundhaltung der Reichen besteht nicht darin, dass sie wenig Steuern zahlen wollen. Sie wollen gar keine Steuern zahlen! Ihre Idee ist, dass andere zahlen müssen. Daher stammt auch der berühmte Ausdruck «lʼimpôt des poires» (die Steuer der Dummköpfe), den der französische Finanzminister 1922 geprägt hat. Im Klartext: Nur Dummköpfe zahlen Steuern.

Diese Steuersenkungen werden in der Regel als einziges Mittel dargestellt, um Grossverdienende in unserem Land zu halten. Aber finden sie nicht anderswo immer bessere Konditionen?
In Sachen Steuern ist es schwierig, etwas Besseres als die Schweiz zu finden! Es stimmt, dass sie in einen anderen Kanton wie Zug, Obwalden, Nidwalden oder Luzern ziehen können. Das ist ein Teufelskreis im Steuerföderalismus der Schweiz. Und das schon seit 200 Jahren. Es ist ein System, das strukturell die Reichen begünstigt, die diese Drohung tatsächlich nutzen können. Aber es gibt Mittel, um dagegen anzukämpfen.

Welche?
Man könnte beispielsweise beschliessen, dass jemand, der sein Vermögen in einem bestimmten Land oder Kanton aufgebaut hat, dort weiterhin fünf Jahre lang steuerpflichtig bleibt, wenn er sich aus steuerlichen Gründen plötzlich zu einem Umzug entschliesst. Es gibt sogar Länder, die eine Steuerpflicht von zehn Jahren vorsehen. Das ist eine Frage des politischen Willens. Warum sollte man in der Schweiz dem interkantonalen Steuerwettbewerb nicht Grenzen setzen? Es würde genügen, einen Mindeststeuersatz festzulegen, unter den die Kantone nicht gehen dürfen.

Glauben Sie, dass diese Idee eine Chance hat, sich durchzusetzen? Unsere Politiker scheinen nicht gewillt, dem Steuerwettbewerb ein Ende zu setzen.
Bei den Unternehmen hat man es doch auch geschafft. Unter der Ägide der OECD haben vor einigen Jahren mehr als hundert Länder beschlossen, einen Mindeststeuersatz von 15 Prozent für multinationale Unternehmen einzuführen. Der französische Ökonom Gabriel Zucman schlägt nun vor, dasselbe mit den Superreichen zu tun, was in Europa eine Diskussion ausgelöst hat. Vielleicht wird sich diese Idee in zehn Jahren durchgesetzt haben.

*Dieses von Antoine Grosjean geführte Interview erschien zuerst in der französischsprachigen Unia-Zeitung «L’Evénement syndical» und wurde von work übersetzt.

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