Ein Jahr nach der Tragödie
Serbien wartet auf Antworten

Im November 2024 stürzte in Novi Sad, Serbien, ein Bahnhofsdach ein. Das Unglück forderte 16 Menschenleben. Nach einem Jahr fehlt noch immer jegliche Aufklärung.

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IMPOSANT: Die Menschenmassen am 1. November in Novi Sad. (Foto: Keystone)

Es ist der 1. November 2025, 11.52 Uhr in Novi Sad. Vor dem Bahnhofsgebäude liegen Blumen und Kerzen, Menschenmassen füllen ganze Strassen der Stadt. Die Organisatoren sprechen von über 100’000 Menschen. Eindrückliche Drohnenbilder entstehen, die um die Welt gehen. Menschen aus dem ganzen Land reisen für die Gedenkfeier an, grössere Studentengruppen wandern vom Süden Serbiens bis Novi Sad. Ihre Route von über 180 Kilometern dokumentierten sie fleissig mit Fotos und Videos.

ROUTE DES PROTESTS: Diesen Weg haben die Studenten zu Fuss zurückgelegt. (Foto: zvg)

Es sind keine Trillerpfeifen zu hören, es sind keine Fahnen zu sehen. Der Grund für das Zusammenkommen ist die Trauer. Die Menschen gedenken mit 16 Schweigeminuten den 16 Menschen, welche genau vor einem Jahr beim Einsturz eine frisch renovierten Bahnhofsdaches ums Leben kamen. Die Tragödie war ein Wendepunkt für viele Serbinnen und Serben. Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Bevölkerung fordert

Denn Untersuchungen haben bestätigt: Der Bau des Daches wies massive Mängel auf. Für die Bevölkerung Serbiens liegt die Schuld dieser Katastrophe bei der korrupten Regierung, allen voran bei Präsident Aleksandar Vučić. Seit dem Einsturz formierten sich massive Protestbewegungen gegen die Regierung. Angeführt wurden diese erst von den Studierenden des Landes, später schlossen sich ihnen viele weitere Menschen an. Seit Monaten gehen in Serbien tausende Menschen auf die Strassen. Politisch sind sie nicht Gleichgesinnte, von links bis rechts ist alles dabei. Auch religiöse Gruppen sind unter ihnen. Sie fordern aber alle dasselbe: Eine lückenlose Aufklärung zum Einsturz des Bahnhofsdaches. Denn auch ein Jahr später sind die Gründe und die Verantwortung für diese Tragödie ungeklärt.

Präsident in Erklärungsnot

Präsident Vučić verliert zunehmend das Vertrauen der Bevölkerung. Erst leugnet er die Proteste, später behauptet er, sie seien vom Westen finanziert und inszeniert. Heute, ein Jahr später, sendet er eine Videobotschaft an die serbische Bevölkerung. An der Trauerfeier in Novi Sad lässt er sich nicht blicken. Laut Vučić braucht es Zeit, um die Verantwortlichen zu ermitteln und sie dafür zu bestrafen. Doch das brauche auch in «fortschrittlicheren Ländern» viel Zeit. Es sind leere Versprechen. Denn ein paar Tage vor dem Gedenktag fragte ihn eine Journalistin, was er vom Samstag (dem Gedenktag) erwarte. Vučić zynische Antwort: «Und was ist am Samstag? Ist irgendein Match angekündigt, oder was?»

Vučić verleugnet die Massen

So verlief das Gespräch bei der Tagesschau von «RTS», dem serbischen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, von Ende Oktober:

Journalistin: Alle blicken und warten auf diesen Samstag, erwarten Sie, dass dieser Tag friedlich verlaufen wird?
Vučić: Und was ist am Samstag? Ist irgendein Match angekündigt, oder was?

Eine Zusammenkunft in Novi Sad, um an den Jahrestag zu gedenken…
Vučić: Es wird 12 Tage später eine viel grössere Versammlung in Novi Sad geben. Deshalb weiss ich nicht, was diese Versammlung am Samstag soll. Ich weiss nicht, was sie erwarten. Ihr glaubt wirklich, dass ihr damit ein Regierungswechsel erreichen könnt, wenn ihr auf der Strasse Menschen vermöbelt, wenn ihr Gebäude zerstört, und was weiss ich alles? Glaubt ihr wirklich daran? So eine Änderung war nie real, und jetzt ist es noch unrealistischer. Schaut gut auf die Anzahl Menschen, hört genau zu, was die Menschen in Serbien denken. Und Ihr werdet verstehen, wie unmöglich das ist.

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