Der französische Premierminister ist gestürzt. Die Gewerkschaften rufen zum Generalstreik am 18.  September auf, und eine unbekannte Massenbewegung will Frankreich lahmlegen.

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AUFRUF ZUM GENERALSTREIK: Weder Gewerkschaften noch Parteien hatten diese Bürgerinnenbewegung auf dem Radar. (Foto: Getty Images)

An vielen Marseiller Wänden klebt ein Flugblatt, das uns an den Strand bittet, «um gemeinsam zu weinen». In meiner Strasse hat jemand das Wort «weinen» durchgestrichen und durch «abfackeln» ersetzt. Das trifft die Stimmungslage in Frankreich gut.

Noch brennen keine Barrikaden, und der Pariser Elysée-Palast liegt unbeschadet. Aber Frankreichs Mächtige und Reiche sind in heller Panik. Sie fürchten den Aufstand. Mindestens. Das tun sie öfter, denn sie wissen, was Präsident Emmanuel Macrons Klassenkampf von oben anrichtet. Nur scheinen sie diesmal besonders nervös. In einer Note wies Innenminister Bruno Retailleau die Präfekten an, «Sicherheitskräfte» in Stellung zu bringen, um jede Unruhe «im Keim zu ersticken». 

Bürger-Generalstreik

Denn im Sommer hatte sich wie ein Lauffeuer der Aufruf verbreitet, das Land am 10. September zu «blockieren», Frankreich komplett lahmzulegen, Unternehmen, Verwaltung, Verkehr, Schulen, Strom, Metro, alles. Und den 10.  September mit einem totalen Konsumboykott zu feiern. Eine Art Generalstreik der Bürgerinnen und Bürger. Fast zwei Drittel (63 Prozent) der Bevölkerung gaben an, die Bewegung zu unterstützen.

So hatte sich eine Idee, die irgendwer auf Telegram lanciert hatte, durch Debatten und Quartierversammlungen in wenigen Wochen zur Bewegung «Bloquons tout!» verdichtet. In Hunderten von Städten und Dörfern riefen Komitees zu Vorbereitungstreffen. 

Aus den Tiefen der französischen Gesellschaft kommt da eine Wut, die niemand auf dem Schirm hatte, nicht einmal der Inlandsgeheimdienst. Sogar die linken «Insoumis» («Die Ungebeugten») und die Gewerkschaften, die sich rühmen, den Finger am Puls der Bevölkerung zu haben, waren erst einmal überrascht. Halb perplex, halb hoffnungsvoll konstatiert Murielle Guilbert vom Gewerkschaftsbund Solidaires:

Etwas kocht hoch. Da ist eine Kraft, die wir lange nicht mehr gespürt haben.

Eine Umschau in den Vollversammlungen der «Blockierer» macht deutlich, dass nicht allein die Wut sie treibt. Vom verschärften Kapitalismus gebrochen, die Klimakatastrophe im Blick und die faschistische Gefahr im Genick, versucht sich hier eine Mehrheit als neues politisches Subjekt zu definieren. Jenseits von Parteistrategien, Wahlen und Apparaten loten sie die Möglichkeit einer tieferen Demokratie aus. 

Ökonomischer Quatsch

Vordergründig dreht sich der Streit um ein rabiates Sparprogramm für 2026. Der abgewählte Premierminister François Bayrou wollte den Service public und die Sozialversicherungen nochmals um 44 Milliarden Euro kappen (Krebspatienten sollen ihre Medikamente nun weitgehend selber bezahlen). Und zwei Feiertage streichen. Für sein Austeritätsprogramm malte er in bombastischem Gedöhns den Staatsbankrott an die Wand. Ökonomisch ist das Quatsch: Anleger würden gern noch sehr viel mehr französische Schuldenpapiere kaufen, und der Schuldendienst (Zinsen) liegt mit nur 2 Prozent des BIP historisch tief.

Wichtiger noch: Nicht die Ausgaben belasten das Land, sondern die fehlenden Einnahmen, also die Steuergeschenke (und Subventionen) für Konzerne und Reiche. Nach offiziellen Zahlen belaufen sie sich auf rund 200 Milliarden Euro jährlich. Ohne Gegenleistung.

Wie weiter?

Am 8. September jagte das Parlament Bayrou aus dem Amt. In diversen Städten feierten die Insoumis einen «Abschiedsapéro». Macron muss einen neuen Regierungschef, eine neue Regierungschefin ernennen – Nummer fünf seit Sommer 2022.

Das Vorhaben des Präsidenten, in Frankreich eine Diktatur des Kapitals zu errichten (2016 in seinem Buch «Revolution» beschrieben), steht auf der Kippe. Nicht nur Insoumis und Gewerkschaften verlangen seine Absetzung. Unter Macron haben sich die Reichen extrem bereichert, die Armut aber steigt, wie die Arbeitslosigkeit. Jeder zweite Lohn ist gesunken, das Gesundheitswesen bricht weg, die einst glänzenden Schulen und Unis produzieren nun Hoffnungslosigkeit. 

Nach der Niederschlagung der Gelbwesten (2019) und der massiven Proteste gegen die Erhöhung des Rentenalters (2023) hoffte der Präsident 2024, mit Neuwahlen ein Konkubinat («Cohabitation») mit den Rechtsextremen um Marine Le Pen zu bekommen – für den autoritären Umbau. Doch eine spontane Massenbewegung zwang die Linke, sich in einer «Neuen Volksfront» (NFP) zusammenzuraufen. Sie gewann, Macron ignorierte das Resultat, aber das Konkubinat war erst einmal vom Tisch.

Nur einen Tag nach dem Sturz hat Macron seinen Verteidigungsminister Sébastien Lecornu zum Premierminister ernannt. Er gilt als Vertrauter Macrons. Die politische Krise wird dies nicht entschärfen. 

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