Alle Systeme lahmgelegt
Nach Cyber-Attacke: Laborant erwirkt mit der Unia ein wegweisendes Urteil

Ein Hackerangriff legt die Siegfried AG wochenlang lahm. Die Pharmafirma will, dass die Mitarbeitenden die Arbeitszeit nachholen. Jetzt stoppt sie das Aargauer Obergericht. Den Fall ins Rollen brachte Unia-Mitglied Domenik Seiwald.

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LIESS SICH NICHT UNTERKRIEGEN: Domenik Seiwald hat sich vor Gericht gewehrt und für sich für seine Kollegen eingesetzt. (Foto: Jakob Ineichen)

Am Morgen des 21. Mai 2021 spielten sich in der Siegfried AG unheimliche Dinge ab. Domenik Seiwald, damals Chemielaborant in der Pharmafirma: «Auf allen PCs wurden ein Dokument ums andere verschlüsselt, wir konnten sie nicht mehr öffnen.» Danach fiel ein System ums andere aus. Darunter alle Computerprogramme, das interne Telefon, sogar die Alarmanlagen der Gebäude. Innerhalb von etwa 20 Minuten sei die Firma praktisch komplett lahmgelegt worden. Auch die Produktion. Die 600 Mitarbeitenden am Hauptsitz in Zofingen AG stellen Wirkstoffe für Medikamente her. Seiwald sagt: «Wir hatten Glück, dass nichts ausgelaufen ist.»

Bald wird klar: Das kann nur ein Hackerangriff sein. Und was für einer: Von den weltweit elf Siegfried-Standorten sind neun betroffen. In Zofingen schickt das Management die Belegschaft bereits am Mittag nach Hause. Nach einer Woche bietet Seiwald an, unbezahlte Ferien zu nehmen. Seine Chefin lehnt ab. «Wir mussten auf Abruf bereit sein.» Drei Wochen dauert es, bis die Produktion wieder läuft. 

Die Stunden nachholen?

Noch während des Stillstands teilt die Siegfried-Leitung den Mitarbeitenden mit: Die ausgefallenen Arbeitsstunden müssen sie nachholen. Viele hätten das als unfair empfunden, so Seiwald – als ob sie etwas dafürkönnten, dass der Betrieb unterbrochen war. Darauf krebsen die Chefs zurück – aber nur halb: Nur die Hälfte der verpassten Stunden werden von den Arbeitszeitkonten abgezogen und müssen somit nachgeholt werden. «Sie sagten: fifty-fifty, das sei doch fair», so der 37jährige. 

Er und einige andere finden das nicht. Sie wissen: Hier handelt es sich um Annahmeverzug. Davon ist die Rede, wenn Mitarbeitende bereit sind zu arbeiten, aber die Firma ihnen keine Arbeit anbieten kann. In einem solchen Fall steht im Obligationenrecht wörtlich, der Lohn sei weiterhin geschuldet, «ohne dass der Arbeitnehmer zur Nachleistung verpflichtet ist».

Erfolg auf der ganzen Linie

Seiwald teilt dies Siegfried mehrmals mit, zuletzt mit einem Mail an die Personalabteilung. Nichts passiert. Unterstützt von der Unia, geht er deshalb vor Gericht. Und hat jetzt, in zweiter und letzter Instanz, auf ganzer Linie recht bekommen!

WAR IM RECHT: Domenik Seiwald hat ein wegweisendes Urteil erwirkt. (Foto: Jakob Ineichen)

Im Urteil stellt das Aargauer Obergericht klar: Ein solcher Cyberangriff fällt unter das Betriebsrisiko des Arbeitgebers. Also ein klarer Fall von Annahmeverzug. Das Gericht verpflichtet Siegfried, Seiwald die abgezogenen Stunden gutzuschreiben. Ein wegweisender Entscheid, sagt Lucien Robischon von der Unia Basel:

Das ist das erste Urteil in der Schweiz zu den Pflichten des Arbeitgebers bei einer Cyberattacke.

Besseres Angebot ausgeschlagen

Da Domenik Seiwald mittlerweile nicht mehr bei der Siegfried arbeitet, hat ihm die Firma die Stunden ausbezahlt – rund 1000 Franken. Bemerkenswert: In der Schlichtung vor dem Prozess hat ihm Siegfried ein noch höheres Angebot gemacht – und der Chemielaborant hat es ausgeschlagen. Denn im Gegenzug hätte er sich zu Stillschweigen verpflichten müssen. Das sei für ihn nicht in Frage gekommen:

Die Stunden stehen nicht nur mir zu. Alle sollen wissen, was richtig ist und was nicht.

Ob die Siegfried das begriffen hat, darf bezweifelt werden. Auch nach dem rechtskräftigen Urteil schreibt die Firma auf Anfrage: «Wir sind dennoch überzeugt, dass unser Massnahmenpaket zur Bewältigung der Cyberattacke notwendig und angemessen war.» Bis heute weigert sich die Firma, allen Betroffenen von sich aus die gestrichenen Stunden wieder gutzuschreiben (siehe Text unten). Und dies, obwohl sie 2021, im Jahr der Cyberattacke, Rekordzahlen schrieb: erstmals einen Umsatz von über einer Milliarde Franken und 95 Millionen Reingewinn. Auch dank einem Auftrag zum Abfüllen des damals begehrten Covid-Impfstoffs von Pfizer. Allein die Schweiz bestellte davon rund 20 Millionen Dosen.


Fiese MethodenKorrigiert Siegfried das Unrecht? Nicht wirklich

In einem Mail an alle stellte die Firmenleitung Domenik Seiwald an den Pranger. Weil er vor Gericht recht bekommen hat.

Nach dem Hackerangriff verknurrte Siegfried ihre Mitarbeitenden dazu, die Hälfte der Stunden nachzuholen: Das war nicht rechtens, urteilt jetzt das Obergericht. Für Lucien Robischon von der Unia Basel ist deshalb sonnenklar: «Die Firma muss jetzt allen betroffenen Mitarbeitenden die Stunden wieder gutschreiben. Von sich aus.» Doch das tut sie nicht. Sie hat den Mitarbeitenden die Gutschrift lediglich «angeboten», wie ein Sprecher auf Anfrage schreibt. Heisst: Nur wer die Stunden ausdrücklich verlangt, bekommt sie zurück. Robischon kritisiert: «Dies widerspricht der Pflicht eines Arbeitgebers, alle Mitarbeitenden gleich zu behandeln.»

Mitarbeitende haben Angst

Domenik Seiwald sagt, nach der Cyberattacke hätten sich viele Mitarbeitende nicht für ihr Recht gewehrt, weil sie Angst hatten, dann ihre Stelle zu verlieren. Er vermutet, dass die Firmenleitung diese Angst jetzt erneut ausnutze. «Einige in der Firma fragen sich jetzt sicher: Führen sie wohl eine Liste mit denen, die ihre Stunden zurückverlangen?»

HAT DAS UNRECHT KORRIGIERT: Domenik Seiwald. (Foto: Jakob Ineichen)

Einen Einblick in die Methoden, welche die Firmenleitung anwendet, gibt ein internes E-Mail. Es stammt vom März 2024. Kurz zuvor hatte das Arbeitsgericht Zofingen Seiwalds Klage in erster Instanz teilweise gutgeheissen. Schon damals machte der Standortleiter den Mitarbeitenden das «Angebot»: Wer abgezogene Stunden zurückwolle, solle sich bei der Personalabteilung melden.

Versuchte Ausgrenzung

Im gleichen Mail versucht der Kadermann aber, ein Wir-Gefühl zu beschwören, indem er einen vermeintlichen Abweichler ausgrenzt – und keine Zweifel offenlässt, was er von guten Mitarbeitenden erwartet. Wörtlich schreibt er: «Während die überwiegende Mehrheit von uns diese für Siegfried ausserordentlich schwierige Situation verstanden und unsere Massnahmen mitgetragen hat, ist ein einzelner Angestellter gerichtlich gegen die Regelung vorgegangen.» Und er kritisiert, dass «eine Einzelperson auf dem Gerichtsweg gegenüber den vielen Kolleginnen und Kollegen, die Siegfried in der Notlage unterstützt haben, einen Vorteil erhält».

Ob solcher Äusserungen kann Unia-Mann Robischon nur den Kopf schütteln. Der angebliche «Vorteil» sei ja bloss die Korrektur des Unrechts, das die Firma mit ihren Stundenabzügen angerichtet habe. «Und ob dieser rechtmässige Zustand nur für einzelne oder für alle wiederhergestellt wird – das hat jetzt allein Siegfried in der Hand.»

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