1x1 der Wirtschaft
Pflege: Schweiz zahlt zu wenig und bildet zu wenig aus

Rund 40 Prozent der Pflegefachpersonen verlassen den Beruf vor dem Erreichen des Rentenalters. Gleichzeitig wird in den nächsten Jahren eine ­grosse Anzahl von Babyboomern in Pension gehen, was auf die Pflege eine doppelte Auswirkung hat: Erstens werden (dennoch) viele Pflegekräfte pensioniert und müssen ersetzt werden, und zweitens steigt der Bedarf an Pflegepersonal aufgrund der Alterung der Gesellschaft stetig weiter an.

Toxisch

Diese Fakten sind landläufig bekannt, genauso wie die nötigen Massnahmen: Die Schweiz muss erstens mehr Pflegekräfte ausbilden und muss zweitens dafür sorgen, dass diese länger im Beruf verbleiben. In beiden Bereichen ist der Aufholbedarf im internationalen Vergleich immens, wie nebenstehende Grafik zeigt: In keinem anderen kontinentaleuropäischen Land haben so viele Pflegefachpersonen einen ausländischen Abschluss wie in der Schweiz. Und in keinem europäischen Land verdienen Pflegefachpersonen im Verhältnis zum allgemeinen Lohnniveau weniger als in der Schweiz.

Diese Kombination ist toxisch. Denn das inländische Arbeitskräftepotential wird in der Pflege – unter anderem ­wegen der zu geringen Löhne – nicht ausgeschöpft. Und der «Import» von im Ausland ausgebildeten Pflegekräften wird sich nicht mehr länger auf dem gleichen Niveau halten lassen. Dies auch deshalb, weil viele europäische Länder schon länger daran sind, viel stärker in die Aufwertung der ­Pflegeberufe zu investieren.

Die Schweiz wird also möglichst schnell schlicht mehr bezahlen müssen – sprich die Arbeitsbedingungen verbessern und die Löhne erhöhen – und gleichzeitig möglichst schnell viel mehr Pflegefachpersonen selber ausbilden müssen. Sonst droht eine «Pflegewüste», mit unabsehbarem Ausgang sowohl auf den für alle gleichwertigen Zugang zu Pflegeleistungen als auch auf die Qualität der Pflege selbst.

Papiertiger

Die Bevölkerung hat dies verstanden und mit ihrem wuchtigen Ja zur Pflegeinitiative überdeutlich zum Ausdruck gebracht. Nur: Seither sind dreieinhalb Jahre vergangen, und geschehen ist fast nichts! Die erste Etappe zur Umsetzung dieser Initiative wird zurzeit von den Kantonen ausgebremst, und die zweite Etappe – kürzlich vom Bundesrat vorgestellt – bleibt vorerst ein reiner Papiertiger.

Reto Wyss ist Ökonom beim Schweize­rischen Gewerkschaftsbund (SGB).

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.