Kolumne EUropa
Trotz Tragödien: Von der Leyen schützt Konzerne

Roland Erne war Chemielaborant und GBI-Jugendsekretär. Seit 2017 ist er Professor für Europäische Integration und Arbeitsbeziehungen am University College Dublin. (Montage: work)

Am 24. April 2013 stürzte das Fabrikgebäude Rana Plaza in Bangladesh ein. Mehr als 1100 Textilarbeiterinnen, die dort für globale Konzerne chrampften, wurden getötet, mehr als 2000 verletzt. Sieben Monate später kam es auch in Europa zu einer Tragödie: Im Stadtteil Zolitūde in Riga (Lettland) stürzte ein Shoppingcenter ein, das erst 2011 eröffnet worden war. Dabei starben 54 Verkäuferinnen, Kunden und Rettungskräfte. 41 weitere wurden verletzt.

Missstände

Beide Katastrophen brachten Missstände ans Licht, die diese Tragödien erst möglich gemacht hatten: Die Missachtung sozialer Sorgfaltspflichten durch Konzerne und Zulieferer. Die Deregulierung gesetzlicher Schutzmassnahmen. Nach der Finanzkrise von 2008 war weltweit ein Angriff auf soziale Standards angesagt; um öffentliche Ausgaben einzusparen, den Verwaltungsaufwand für Unternehmen zu verringern und Investitionen anzukurbeln.

Die Tragödien und die Deregulierungswelle lösten aber eine transnationale Gegen­bewegung aus. EU-Parlament und Ministerrat verabschiedeten im Juli 2024 eine EU-Lieferkettenrichtlinie, die Konzerne dazu verpflichtet, zentrale Arbeits- und Umweltstandards entlang ihrer Wertschöpfungsketten einzuhalten.

Deregulierungskommissar

Nach der Zolitūde-Tragödie trat auch der damalige lettische Ministerpräsident Valdis Dombrovskis zurück. Doch nur wenige Monate später wurde er zum EU-Kommissar befördert. Dies geschah, bevor der parlamentarische Untersuchungsausschuss seines Landes ihm die Verantwortung für die Zolitūde-Tragödie zuschrieb.

Um ihre Wiederwahl zu sichern, versprach EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen grünen und sozialdemokratischen EU-Abgeordneten im Herbst 2024, die Lieferkettenrichtlinie in jedem Fall umzusetzen. Nach ihrer Wiederwahl machte sie ausgerechnet Dombrovskis zum Chef der Generaldirektion für Wirtschaft und Finanzen und damit auch zum EU-Deregulierungskommissar, um den «Verwaltungs- und Melde­aufwand für Unternehmen» zu verringern.

Als Dombrovskis Ende Februar 2025 das neue «Omnibus»-Gesetzpaket vorstellte, wurde klar, dass das für die Lieferkettenrichtlinie nichts Gutes bedeutet: Konzerne sollen nur noch die Praktiken ihrer direkten Lieferanten überwachen, nicht mehr die ihrer erweiterten Lieferketten. Die Überprüfungen müssen nur noch alle fünf Jahre statt jährlich stattfinden. Ausserdem sollten Konzerne nicht mehr für Arbeits-, Umwelt- und Menschenrechtsverstösse ihrer Lieferanten haftbar gemacht werden können. Und schliesslich sollten Konzerne, die ihre Sorgfaltspflichten missachten, nicht mehr mit abschreckenden Bussen europaweit, sondern nur auf nationaler Ebene sanktioniert werden können.

Offener Ausgang

Noch ist nicht sicher, ob diese Vorschläge umgesetzt werden. Sie müssen vom EU-Parlament und einer Mehrheit der Mitgliedstaaten genehmigt werden. Dazu müsste es Dombrovskis und von der Leyen gelingen, auch Koalitionsregierungen mit sozialdemokratischen Parteien, zum Beispiel Deutschland oder Österreich, davon zu überzeugen, dass die Richtlinie verwässert werden müsse.

Roland Erne schreibt hier im Turnus mit Regula Rytz, was die europäische Politik bewegt.

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