Unia-Anwalt kämpft für Gewerkschafter in Belarus
«Politische Gefangene werden komplett isoliert!»

Seit drei Jahren gibt es in Belarus keine freien Gewerkschaften mehr. Langzeitherrscher Alexander Lukaschenko liess sie zerschlagen – weil sie 2020 an den Massenprotesten gegen den Wahlbetrug teilgenommen hatten. Und weil sie den russischen Krieg gegen die Ukraine kritisierten. Zurzeit sitzen Dutzende Gewerkschaftskader und -aktivistinnen in Straflagern. Zudem rund 1200 weitere Oppositionelle. Der Schaffhauser Unia-Anwalt Vadim Drozdov hat mehrere von ihnen verteidigt – trotz persönlichen Risiken.

MASSENPROTESTE IM JAHR 2020: Weil das Volk sich wehrte, liess Machthaber Lukaschenko die unabhängigen Gewerkschaften zerschlagen. (Foto: Keystone)

work: Wie hat sich die Lage der arbeitenden Bevölkerung in Belarus verändert seit der Liquidierung der Gewerkschaften?
Vadim Drozdov: Erstens sahen sich Mitglieder der aufgelösten unabhängigen Gewerkschaften Repressionen und Diskriminierung ausgesetzt, weil sie an Streiks und friedlichen Protesten gegen die Wahlfälschungen im Jahr 2020 teilgenommen hatten. Zweitens haben die Erfahrungen der Jahre 2020 bis 2022 gezeigt, dass Streiks in Belarus grundsätzlich als politische Aktionen eingestuft werden.

Aber es gibt doch auch in Belarus Streikrecht!
Nur auf dem Papier. Das belarussische Arbeitsgesetzbuch formuliert unrealistische Voraussetzungen für einen legalen Streik:

So müssen die Beschäftigten die Unternehmensleitung zwei Wochen im voraus informieren und die Unterstützung von mindestens der Hälfte der Belegschaft einholen – was bei grossen Staatsbetrieben faktisch unmöglich ist.

Bereits in dieser frühen Phase sehen sich Initiatoren massivem Druck durch die Führungsetagen ausgesetzt, viele Arbeitnehmende fürchten Konsequenzen. Selbst wenn die formalen Hürden genommen werden, erlaubt Artikel 393 des Arbeitsgesetzbuches dem Präsidenten, einen Streik jederzeit zu verbieten – ohne Möglichkeit der Anfechtung.

Und was ist mit jenen Gewerkschaften, die nicht aufgelöst worden sind?
Die regierungstreuen Gewerkschaften vertreten heute eher die Interessen des Staates und der Arbeitgeber als jene der Arbeitnehmenden. Rechte und Freiheiten der arbeitenden Bevölkerung werden faktisch nicht mehr geschützt. Wer seinen Unmut dennoch äussert, begibt sich in grosse Gefahr.

Ob in Belarus oder der Schweiz: Drozdov kämpft für Büezer

Vadim Drozdov wuchs in Belarus auf und lebt seit 10 Jahren mit seiner Familie in der Ostschweiz. Er arbeitet im Rechtsdienst der Unia Zürich-Schaffhausen und als selbständiger Anwalt mit Schwerpunkt Migrationsrecht und internationaler Menschenrechtsschutz.

Was macht das mit der Stimmung im Land?
Die Unmöglichkeit, Protest auch auf friedliche Weise zu artikulieren, das Fehlen eines effektiven Rechtsschutzes, die gezielte Verfolgung von Regierungskritikern sowie die massive Gewalt im Jahr 2020 haben das Protestpotential in Belarus nahezu ausgelöscht. Hinzu kamen in den letzten Jahren zahlreiche Skandale innerhalb der belarussischen Opposition:

Politisch aktive Belarussen, die ins Ausland fliehen mussten, erhielten oftmals keine Unterstützung; persönliche Daten gerieten in die Hände der belarussischen Sicherheitsdienste. Das Vertrauen in die Opposition hat dadurch erheblich gelitten.

Sie verteidigen aus der Schweiz heraus immer wieder verfolgte Gewerkschaftsmitglieder. Aber können sich Anwältinnen und Anwälte überhaupt noch auf die belarussischen Gesetze verlassen?
In erster Linie stützten wir uns auf internationales Recht und auf die Rechtsprechung internationaler Gremien wie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Menschenrechtsausschusses der Uno. Klagen vor nationalen Gerichten dienten lediglich dazu, den Instanzenweg auszuschöpfen, was Voraussetzung für internationale Beschwerdeverfahren ist. Zugleich wollten wir dem Menschenrechtsausschuss der Uno zeigen, dass politisch Verfolgte in Belarus keinen wirksamen Rechtsschutz erhalten und systematischer Diskriminierung ausgesetzt sind. Ebenso wichtig war es, die Verletzungen der Arbeitnehmerrechte auf internationaler Ebene zu dokumentieren.

DIE ANTWORT DER REGIERUNG AUF EINE UNZUFRIEDENE BEVÖLKERUNG: Die Sicherheitskräfte während den Protesten im Jahr 2020. (Foto: Keystone)

Wie riskant ist dieses anwaltliche Engagement?
Das grösste Risiko für Anwälte, die politisch aktive Mandanten vertreten, besteht in der Verfolgung durch die Behörden. In Belarus verloren Verteidiger in solchen Fällen im besten Fall ihre Zulassung, im schlimmsten Fall drohten ihnen Strafverfahren. Wegen dieser Risiken war es nahezu unmöglich, lokale Anwältinnen oder Anwälte für solche Verfahren zu finden. De facto liefen die Prozesse in Belarus, die Verteidigung erfolgte jedoch aus dem Ausland – von mir und meinen Kolleginnen und Kollegen.

Eine Ihrer Mandantinnen ist die Gewerkschaftsführerin Olga Britikowa. Die Raffineriearbeiterin hatte 2020 vor versammelter Belegschaft ihre Meinung gesagt, den Wahlbetrug Lukaschenkos angeprangert und zum Beitritt zu den unabhängigen Gewerkschaften aufgerufen. Jetzt verbüsst sie eine sechsjährige Haftstrafe. Wie geht es ihr?
Ich weiss nicht, unter welchen Bedingungen Olga derzeit in der Strafkolonie lebt. Denn leider setzen die Behörden zunehmend auf die Strategie der vollständigen Isolation politischer Gefangener. Über viele von ihnen gibt es monatelang, teilweise jahrelang keinerlei Informationen. Aber ich kenne die Zustände, unter denen Olga 105 Tage in verschiedenen Arrestzellen verbringen musste:

Teilweise waren sieben Personen in einer Viermannzelle untergebracht. Eine grelle Lampe brannte Tag und Nacht. Mancherorts gab es weder fliessend Wasser noch Toiletten; stattdessen erhielten die Inhaftierten einen Eimer, der zweimal täglich geleert wurde. Briefe oder Lebensmittelpakete waren ihr in dieser Zeit verboten.

Neuere Informationen besagen, dass ihr Strafmass auf gerichtliche Anordnung um ein Jahr reduziert wurde – sie soll nun insgesamt fünf Jahre in Haft bleiben.

Sitzen alle der rund 1200 politischen Gefangenen unter solchen Bedingungen?
Derart unmenschliche Haftbedingungen sind insbesondere für die Arrestanstalten typisch und betreffen ausschliesslich politische Gefangene. Auch in den Strafkolonien kann die Behandlung in manchen Fällen Folter oder unmenschlicher und erniedrigender Behandlung gleichkommen. Ein Beispiel ist die Schweizer Staatsbürgerin Natallia Hersche, deren Fall ich beim Menschenrechtsausschuss der Uno eingebracht habe: Weil sie sich weigerte, Uniformen für die Sicherheitskräfte zu nähen, wurde sie während ihrer 17 Monate in Haft wiederholt in eine Strafzelle (auf russisch «shtrafnoy izolyator» oder «Shizo») gesteckt – ohne Matratze, Kissen oder Decke. Die Pritsche war tagsüber an die Wand gekettet, Duschen durfte sie nur einmal wöchentlich.

Wie können die Leute hier in der Schweiz helfen, damit die inhaftierten Gewerkschafter und Aktivistinnen freikommen?
Aus meiner Sicht ist der wirksamste Weg der politische Dialog mit den belarussischen Behörden über einzelne konkrete Fälle. Zudem ist es entscheidend, das Thema Menschenrechte in Belarus wieder stärker in die öffentliche Wahrnehmung zu rücken.

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