Im Mai vor 80 Jahren ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Historiker Jakob Tanner über Erinnerungs­politik und ­Schweizer ­Beihilfe bei den Nazi-Greueltaten.

JUBEL ZUM KRIEGSENDE: Aufnahme vom 8. Mai 1945 in Lausanne. (Foto: Keystone)

Am 8. Mai 1945 zwangen die alliierten Streitkräfte mit den grössten Militäroperationen aller Zeiten das nationalsozialistische Regime in die bedingungslose Kapitulation. Der Schrecken der Nazi-Terrorherrschaft fand sein Ende.

Es gilt, sich die Ursachen und die Dimension der Katastrophe des Holocausts und der Shoah vor Augen zu halten. Schon kurz nachdem die Nationalsozialisten Ende Januar 1933 in Deutschland an die Macht gekommen waren, sperrten sie ihre politischen Gegner in Konzentrationslager ein. Der Antisemitismus war die entscheidende ideologische Triebkraft von Hitlers Regime. Nach der Entfesselung des Krieges am 1. September 1939 besetzte die deutsche Wehrmacht ab 1943 insgesamt 26 Länder mit weit über 230 Millionen Menschen.

Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti, Kommunistinnen und Sozialdemokraten, Homosexuelle und sogenannte «Geisteskranke»: Menschen, die aus dem «arischen Volk» ausgegrenzt wurden, waren ihres Lebens nicht mehr sicher. Die Opfer der Kriegführung und der Massenverbrechen übertrafen an Zahl und Grad der Gewaltausübung das bisher Dagewesene. Durch direkte Kriegseinwirkungen kamen 60 bis 65 Millionen Menschen zu Tode. Zentrales Ziel des Nationalsozialismus war die Vernichtung des europäischen Judentums, zunächst durch Massen­erschiessungen an der Front und im Hinterland und schliesslich durch systematische Vergasung von Menschen in Vernichtungslagern mit ins­gesamt 6 Millionen Opfern. Auch über drei Mil­lionen sowjetische Kriegsgefangene und eine ähnlich hohe Anzahl nichtjüdischer Zivilisten, ­KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiterinnen, Deportierte, fanden brutal den Tod. Das sind die Sachverhalte, an die es am 8./9. Mai zu erinnern gilt. Doch die Erinnerung an das Kriegsende ist keineswegs einheitlich, sondern sie war und ist umstritten.

Propaganda À la Trump und Putin

Während der Nachkriegszeit standen die Jahresfeiern zum Ende des Zweiten Weltkrieges blockübergreifend im Zeichen eines «Nie wieder!». Dieses Jahr erleben wir gerade eine neue Intensität in der geopolitischen Instrumentalisierung des Erinnerungsrituals. Putin polt dessen Bedeutung um. Russland veranstaltet zum 80. Jahrestag eine monströse Militärparade, welche die Kulisse für eine Rechtfertigung des Angriffskrieges gegen die Ukraine zu liefern hat. Die Opfer-Täter-Verkehrung ist evident: Das überfallene Land wird in der russischen Propaganda als «faschistisches Regime» dargestellt, das mit einer «militärischen Spezialoperation befreit» werden soll. Das «Nie wieder!»-Motiv wird in eine «Wir können das jederzeit wieder tun»-Parole umfunktioniert, die sich auch gegen andere Angriffsziele richten kann.

Jakob Tanner. (Foto: ZVG)

In den USA hat derweil Donald Trump den 8. Mai in «Victory Day for World War II» umbenannt. Niemand, so Trump zur Begründung, habe damals «mehr Stärke, Heldenmut und militärische Brillanz» gezeigt als «wir». Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg verkommt in diesem «Make America Great Again»-Setting zu einer obszönen Inszenierung militärischen Ruhms. Natürlich war es wichtig, dass die alliierten Armeen Europa vor 80 Jahren vom Nazi-Regime befreit haben. Am Vorrücken der britischen, US-amerikanischen, russischen und ukra­inischen Truppen – um hier nur die wichtigsten zu nennen – hing auch das Schicksal der Schweiz als demokratischen Staates. Es ist allerdings entscheidend wichtig, dass die europäischen Länder ihre Erinnerung nicht auf den militärischen Erfolg beschränken. Vielmehr gilt es zu bedenken, wie es möglich war, dass nach dem Ersten Weltkrieg faschistische Regime entstanden und in Deutschland der Nationalsozialismus überhaupt an die Macht kommen konnte.

Einer solchen Erinnerungsarbeit ist das Projekt «Stolpersteine» verpflichtet. Es entstand nach dem Ende des Kalten Krieges in den 1990er Jahren in Deutschland aus einer Kunstaktion des Konzeptkünstlers Gunter Demnig heraus. Demnig erinnerte 1990 in Köln mit einem «Schriftspurengerät» an die 1940 durchgeführte Deportation von 1000 Roma und Sinti und entwickelte daraus die Idee der kubischen, karg beschrifteten Stolpersteine, von denen es mittlerweile in fast drei Dutzend Ländern mehr als 100 000 gibt. Es handelt sich damit um das weltgrösste dezentrale Mahnmal, das transnational an die Schrecken der Nazi-Zeit erinnert.

Schweizer Erinnerungsblockade

Die Schweiz blieb während der ersten zwei Jahrzehnte gewissermassen verschont von diesem Projekt. Sie war eine stolpersteinfreie Insel, in akkurater Entsprechung mit einer nationalen Selbsteinbildung, in der sie sich als kriegsverschontes Bollwerk des Widerstandes und deshalb als unschuldige Insel der Seligen imaginierte. Nichts davon ist wahr, und ein Rückblick auf die Schweiz der Nachkriegszeit zeigt unschwer, wie sehr sich hierzulande eine regelrechte Erinnerungsblockade aufbaute, um nicht an Vorgänge und Tatsachen erinnert zu werden, die diese selbstgerechte Zurechtlegung der Vergangenheit gestört und widerlegt hätten.

So ging der materielle Fortschritt in den Wirtschaftswunderjahrzehnten des Kalten Krieges einher mit der Ausblendung und Aufschönung der Geschichte. Der antikommunistische Konsens jener Phase sah in kritischen Rückfragen durch Intellektuelle, Kunstschaffende und Historikerinnen und Historiker eine Störung der Nationalharmonie, wenn nicht gar eine perfide Destabilisierungsaktion des Feindes im Osten. So verharrte das kleine, neutrale Land im Herzen Europas in einem mentalen Reduit. Mit und im Gefolge der 68er Bewegung gelang es aber dennoch, den Blick gleichsam ins Flachland zu weiten und neue Fragen zu stellten, mit deren Beantwortung wir heute noch immer beschäftigt sind. Die Bergier-Kommission, deren Mitglied ich zwischen 1996 und 2001 war, arbeitete viele verdrängte Aspekte der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg auf und machte insbesondere auch die schweizerische Flüchtlingspolitik erneut zum Thema.

Verantwortung übernehmen

Die Schweiz hat, wie die Bergier-Kommission in ihrem Schlussbericht festgehalten hat, mit ihrer Flüchtlingspolitik «dazu beigetragen, dass die Nationalsozialisten ihre Ziele erreichen konnten». Inzwischen ist die Schweiz bereit, dafür eine erinnerungspolitische Verantwortung zu übernehmen. Das geplante nationale Memorial für die Opfer des Holocausts steht vor seiner Realisierung. Die Stolpersteine fügen sich in diese Anstrengung ein, einen anderen, einen neuen Umgang mit der Vergangenheit zu finden. Sie machen deutlich, dass die Geschichte nicht mit einem Schlussstrich abgeschlossen werden kann. Es ist eine Täuschung, wenn wir denken, die Vergangenheit liege hinter uns. Die Fragen, die sie aufwirft, liegen auf unheimliche Weise vor uns. Sie stellen eine Herausforderung der Zukunft dar, der wir uns stellen müssen.

* Jakob Tanner war Professor der Geschichte an der Uni Zürich. Dieser Text ist eine gekürzte Version der Rede, die er am 8. Mai in Biel hielt, wo neue Stolpersteine gesetzt wurden.


Stolpersteine in BielAn die Nazis ­ausgeliefert

Am 8. Mai wurden in Biel fünf Stolpersteine gesetzt. Sie erinnern an Simon ­Sonabend, Laja Sonabend, Charles Sonabend und Sabine Sonabend. Die jüdische Familie ist 1942 in die Schweiz geflüchtet und wähnte sich in Biel in ­Sicherheit.

Sonabend, Charles Sonabend und Sabine Sonabend. Die jüdische Familie ist 1942 in die Schweiz geflüchtet und wähnte sich in Biel in ­Sicherheit.

Ermordet

Doch nur drei Tage nach ihrer Ankunft in der Stadt am Jurasüdfuss, am 17. August 1942, wurde die Familie von den Behörden nach Frankreich ausgeschafft und von den ­deutschen Besatzern verhaftet. Die Eltern wurden im Konzentrationslager Auschwitz ermordet, die Kinder überlebten.

Der Verein Stolpersteine Schweiz hat erste Stolpersteine in Zürich, Basel, Bern, Winterthur und St. Gallen gesetzt.

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