Bündner Ex-Richter und Vergewaltiger verurteilt
«Der Umgang unserer Strafbehörden mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt ist unhaltbar»

Jetzt ist es offiziell: Ein Bündner Richter wurde wegen Vergewaltigung, mehrfacher sexueller Belästigung und mehrfacher Drohung verurteilt. Agota Lavoyer, Expertin für sexualisierte Gewalt, ordnet für work den Prozess und das Urteil ein.

EXPERTIN AGOTA LAVOYER: «Hört auf, vom Sexopfer zu schreiben. Es sind Gewaltopfer.» (Foto: zvg/Raphaela Graf)

Vor wenigen Wochen sorgte ein Prozess vor dem Regionalgericht Plessur GR für viel Aufsehen. Ein ehemaliger Bündner Richter wurde von seiner Praktikantin angeklagt. Der Vorwurf: Vergewaltigung, mehrfache sexuelle Belästigung und mehrfache Drohung. Nach einer zweitägigen Anhörung kam am 12. November das Urteil: Das Bezirksgericht sprach ihn schuldig. 
 
Nebst der erschütternderen Tat und dem Ausnutzen der Machtposition des Täters sorgte der Prozess für Ekel. Der Verteidiger des Vergewaltigers sowie ein Nebenrichter machten dem Opfer gegenüber unmöglichen Aussagen. Ein Nebenrichter fragte, ob die junge Frau «nicht die Beine hätte zusammenpressen können». Und der Anwalt des Täters war der Meinung, ein Nein reiche nicht. Das Opfer hätte mehr oder weniger explodieren müssen, ihn wegstossen und aus dem Büro stürmen sollen. Eine laute, fast schreiende Äusserung ihres Unbehagens wäre angebracht gewesen.
 
Für Agota Lavoyer (43), Expertin für sexualisierte Gewalt und Opferberatung, ist klar: «Der Umgang unserer Strafbehörden mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt ist unhaltbar.»

Das Abraten einer Therapie

Lavoyer arbeitete als Sozialarbeiterin mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt. Seit über 10 Jahren ist sie in der Opferberatung tätig und kennt die Ausgangslage der Betroffenen aus erster Hand. Zudem ist sie Autorin, darunter des Buches «Jede_ Frau» (work berichtete). Für sie zeigt der Prozess exemplarisch, wie tief Sexismus und die sogenannte «Rape Culture», also die Akzeptanz von sexualisierter Gewalt, in unserer Gesellschaft verwurzelt sind:

Dieser Prozess kann bei Betroffenen von sexualisierter Gewalt eine grosse Ernüchterung und Entmutigung auslösen.

Wer rechtliche Schritte gegen einen Sexualstraftäter einleitet, muss oft mit einem Verfahren von zwei bis vier Jahren rechnen. Zudem ist es eine Lotterie, ob die zuständigen Polizistinnen und Polizisten und die Personen bei den zuständigen Behörden sensibel mit dem Thema umgehen oder nicht. Um dann im Prozess möglichst traumatisiert und damit glaubwürdig aufzutreten, wird den Opfern manchmal sogar von einer Therapie abgeraten. 

Ratgeber

Der neue Ratgeber «Ermutigt» von Agota Lavoyer und Sim Eggler dient als Unterstützung für Betroffene von sexualisierter Gewalt.

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Für die Taten des Vergewaltigers aus Chur fiel das Strafmass wie folgt aus: Freiheitsstrafe von 23 Monaten und eine Geldstrafe von 60 Tagessätzen à 90 Franken, beides zur zweijährigen Bewährungsfrist. Heisst: Er ist auf freiem Fuss. Zudem muss er eine Busse von 2300 Franken bezahlen. Zu wenig? «Grundsätzlich empfinden viele Betroffene das Strafmass der verurteilten Täter als zu mild. Andererseits ist der Schuldspruch für viele eine grosse Erleichterung – unabhängig vom Strafmass», sagt Lavoyer. 

Lernprogramme zur Prävention

Mit der Revision des Sexualstrafrechts (work berichtete) konnten viele Verbesserungen bewirkt werden. Doch diese sollte man auch nutzen, so Lavoyer: «Personen, die Delikte gegen die sexuelle Integrität begangen haben, können nun verpflichtet werden, an Lernprogrammen teilzunehmen. Der Haken: können und nicht müssen.» Diese Programme sollen helfen, Rückfälle zu verhindern und zur Prävention beitragen. Laut Lavoyer muss man verurteilte Täter strenger mit Präventionsmassnahmen daran hindern, wieder gewalttätig zu werden. Generell steht bei der Präventionsarbeit rund um sexualisiert Gewalt noch viel Arbeit an. Denn:

Solange das Ausmass sexualisierter Gewalt so gross ist, kann keine Gleichstellung herrschen.

Agota Lavoyer. (Foto: zvg/Raphaela Graf)

Aber Achtung: Fälle, die noch vor der Revision des Sexualstrafrechts passiert sind, werden nach dem alten Recht beurteilt.
 
Laut Lavoyer erzielen wir diese erst bei einer Nulltoleranz gegenüber sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt. Denn die Verbreitung gewaltvoller Haltungen findet immer neue Wege, etwa aktuell durch Social Media oder der Popularität an frauenverachtenden Ideologien. 

Die Verantwortung der Medien

Der ganze Prozess rund um den Vergewaltigungsfall wurde besonders medial gepusht. Dazu sagt Lavoyer: «Die Berichterstattung hat sich auf jeden Fall verbessert. Es kann aber nicht sein, dass Medien den Prozess eng begleiten, beispielsweise mit einem Live-Ticker, die gefallenen Aussagen aber weder kommentieren noch einordnen.» Dabei sei es besonders wichtig, dass sich die Tagespresse daran erinnert, die vierte Gewalt zu sein. Zudem betont Lavoyer:

Hört auf, vom Sexopfer zu schreiben. Es sind Gewaltopfer. Das Wort ‹Gewalt› wird für den Clickbait oft durch ‹Sex› ersetzt, was eine unhaltbare Verharmlosung darstellt und eine Reproduktion der Rape Culture ist.

Start mit der Demo «Gegen Gewalt an Frauen»

Am 23.  November starten die nationalen 16 Tage gegen Gewalt an Frauen. Das diesjährige Thema: «Wege aus der Gewalt». Dafür rufen die Organisatorinnen, darunter auch die Gewerkschaft Unia, zur Demo auf, am Samstag, 23. November, um 14.00 Uhr auf der Schützenmatte in Bern. Unter dem Motto «Schulter an Schulter gegen Gewalt und Unterdrückung» demonstrieren Frauen und solidarische Menschen. work berichtet vor Ort auf Instagram (@workzeitung). Mehr Informationen zur Demo und zu den 16 Tagen, prall gefüllt mit interessanten Events in der ganzen Schweiz, unter: www.16tage.ch

Zudem veranstalten solidarische Männer am 25. November in mehrere Schweizer Städten Aktionen, um sich gegen Gewalt an Frauen einzusetzen.

Mehr Infos sind auf dem Instagramkanal @diefeministen zu finden.

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