Als Winterthurer «Giesserfäuste» auf Zürcher «Herrensöhne» niederprasselten:

Der «Tössemer Krawall» von 1934

Jonas Komposch

Vor 90 Jahren erlebte die Nationale Front im roten Töss ihr blaues Wunder. Doch die grösste antifaschistische Strassenschlacht in der Schweiz der 1930er Jahre hatte auch Folgen für die Arbeiterbewegung. Eine historische Recherche.

Anlässlich der General-Dufour-Feier in Genf 1938 grüssen Frontisten Schweizer Militärs mit dem Hitlergruss. (Foto: Keystone)

Der Winterthurer Polizeivorsteher Jakob Büchi war nicht nur ein überzeugter Demokrat, sondern wohl auch ein grosser Optimist und geduldiger Typ. Das zeigt ein von ihm verantworteter Polizeieinsatz, der sich heute zum neunzigsten Mal jährt und der als «Tössemer Krawall» in die Geschichtsbücher eingegangen ist.

Es passiert am Donnerstag, dem 25. Januar 1934. Schon am frühen Nachmittag ist die Eulachstadt in heller Aufregung. Denn mitten im roten Büezerviertel Töss haben auswärtige Faschisten das Restaurant Freihof in Beschlag genommen. Ausgerechnet den Freihof, wo die lokale SP-Sektion seit Jahr und Tag ihre Sitzungen abhält! Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Spontan strömen über hundert Neugierige herbei. Und es dauert nicht lange bis zur ersten Keilerei. Die Menge wächst rasch auf über tausend Leute an. Und bald artet der Tumult in die grösste antifaschistische Strassenschlacht aus, die die Schweiz bis dahin gesehen hat.

Das Restaurant Hischen in Töss war ein Lokal der Arbeiterbewegung. (Foto: ZVG)

«BÖSE SCHLÄGEREI» UND SCHWERVERLETZTE

Polizeivorsteher Büchi lässt sich aber nicht so schnell aus der Ruhe bringen. Der Aufruhr dauert bereits über drei Stunden, als Büchi um 20.15 Uhr endlich nach Zürich telefonieren lässt, in die Polizeikaserne. Aber nicht etwa, um Alarm zu schlagen. Büchi will bloss informieren, was sich in der Nachbarstadt gerade zuträgt: «Böse Schlägerei in Töss. Frontisten getrennt in Restaurant Hirschen und Freihof. Schwerverletzte im Hirschen.» So notiert es ein Zürcher Kantonspolizist. Ausrücken soll seine Mannschaft aber nicht. Denn Büchi ist guter Dinge, die Angelegenheit mit seinen eigenen Leuten zu lösen. Aus heutiger Sicht mag diese Gelassenheit erstaunen. Denn bereits am frühen Morgen hat sich abgezeichnet, dass sich an diesem Tag etwas Grosses zusammenbrauen wird.

FASCHISTEN SCHIELEN AUF ARBEITERSCHAFT

Über Nacht sind nämlich in der ganzen Stadt leuchtend rote Plakate aufgetaucht. Es ist die Nationale Front, die dahintersteckt, also die damals grösste faschistische Organisation der Schweiz. In Stil und Programm eifert sie der NSDAP nach und verzeichnet mit Hitlers Machtübernahme merklich Zulauf. In Schaffhausen etwa wählen 1933 fast 30 Prozent den frontistischen Ständeratskandidaten Rolf Henne. Auch im Zürcher Weinland räumt die Front in manchen Dörfern jede fünfte Wählerstimme ab. Und mit dem «Flaachtaler Harst» verkehrt in der Region sogar eine uniformierte Parteimiliz nach dem Vorbild der deutschen SA.

Eine Fronten-Veranstaltung auf der Winterthurer Schützenwiese, 24. Mai 1936. (Foto: Keystone)

In der Arbeiterstadt Winterthur aber hat die selbsternannte «Erneuerungsbewegung» einen schweren Stand. Das soll sich nun ändern. Die lokale Front-Sektion hat sich explizit zum Ziel gesetzt, «den Arbeiter dem jüdischen Marxismus zu entreissen» – und zwar «in zähem Kampfe». So steht es in einem ihrer Rundbriefe, die heute im Winterthurer Stadtarchiv lagern. Es ist also kein Zufall, dass die Überraschungsplakate für eine öffentliche Veranstaltung mitten in Töss werben. Noch am selben Abend soll sich speziell die Arbeiterschaft im Freihof einfinden, um sich ein eigenes Bild zu machen über «Wesen und Ziele unserer Bewegung». Doch für viele Einwohnerinnen und Einwohner ist der Aufruf pure Provokation.

WINTERTHUR ALS KRISENHAUPTSTADT

Rund die Hälfte der Stadtbevölkerung wählt in den 1930er Jahren nämlich sozialdemokratisch. Noch höher ist der SP-Anteil in Töss, wo die riesigen Betriebshallen von Sulzer, Rieter und der Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik (SLM) stehen. Fast ein Viertel aller Winterthurer Berufstätigen arbeiten damals in einer dieser Fabriken. Und sie machen gerade äusserst schwere Zeiten durch.

Die Ursache liegt im New Yorker Börsencrash von 1929, der eine globale Krise ausgelöst hat. Ab 1932 stagniert die Wirtschaft auch in der Schweiz. Betroffen sind vor allem exportorientierte Sektoren – und damit besonders die Industriestadt Winterthur. Von 1929 bis 1934 bauen Sulzer, Rieter und SLM fast jede zweite Stelle ab. Zudem peitschen die «grossen Drei» Lohnkürzungen von 6 Prozent durch. Bei Sulzer liegt Streik in der Luft, doch eine knappe Mehrheit der Büezer will noch zuwarten. Und so trübt sich die Stimmung in den Belegschaften zusehends.

Auch die Gewerkschaften diskutierten den aufkommenden Faschismus intensiv. (Foto: Schweizerisches Sozialarchiv)

Sorgen plagen auch die Stadtregierung. Wegen klammer Kassen und hoher Arbeitslosigkeit sieht sie sich sogar gezwungen, den Bundesrat um Hilfe zu bitten. Wörtlich meldet sie nach Bern:

«Seit circa 3 Jahren wird Winterthur durch die Weltwirtschaftskrise ausserordentlich stark mitgenommen […] die letzte Substanz ist aufgebraucht, man muss auch beim Notwendigsten, beim Essen und bei den Kleidern einsparen; manche hungern, weil es nicht mehr reicht, die notwendigsten Lebensmittel zu kaufen […]. Es kommt zu Abwanderungen zu den extremen Parteien, gierig greift man zu jeder Heilslehre.»

BÜRGERLICH-FASCHISTISCHER SCHULTERSCHLUSS

Die Gefahr des aufkommenden Faschismus hat damals nicht nur die Winterthurer Regierung erkannt, sondern längst auch die Schweizer Arbeiterbewegung. Schliesslich sind bereits drei Nachbarländer zu Diktaturen geworden. In Italien regiert Mussolini, in Deutschland Hitler und in Österreich der Austrofaschist Engelbert Dollfuss. Zudem scheint es 1934 alles andere als sicher, dass nicht auch die Schweizer Bürgerlichen zu Steigbügelhaltern der Faschisten werden. So haben die Stadtzürcher Bürgerlichen den Schulterschluss mit Rechtsaussen bereits aktiv gesucht: Der Freisinn, die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (heute SVP), die Evangelische Volkspartei und die Christlichsozialen schliessen 1933 ein «vaterländisches» Wahlbündnis mit der Nationalen Front. Einzig die Demokratische Partei (der auch der Winterthurer Polizeivorsteher Büchi angehört) macht nicht mit bei diesem Pakt.

Darüber hinaus ist es anlässlich rechtsextremer Veranstaltungen auch in der Schweiz bereits zu fatalen Zusammenstössen gekommen. Etwa am 9. November 1932 in Genf, wo eine Kundgebung gegen die faschistische Union nationale ein Militäraufgebot auslöst. Rekruten schiessen in die Menge, dreizehn Demonstranten werden getötet, über sechzig verletzt. Eine solche Katastrophe wollen die Winterthurer Arbeiterorganisationen um jeden Preis verhindern. Auf «Töss» haben sie sich deshalb gründlich vorbereitet.

IGNORIEREN ODER PROTESTIEREN? SP IST GESPALTEN

Schon am 13. Januar lädt die Tössemer SP zu einer «Vertrauensleuteversammlung». Diese ist «streng geheim» und nur für «Genossen mit unbedingter Überzeugungstreue» zugänglich, wie es im entsprechenden Protokoll heisst. Das einzige Traktandum: die bevorstehende Fronten-Veranstaltung, von der man Wind bekommen hat. Die Partei ist uneins. Viele lehnen eine Gegenaktion ab. Besser sei es, die «Fröntler» einfach zu ignorieren. Zu gross sei die Gefahr einer Eskalation. Und gerade darum gehe es den Faschisten ja – um das Provozieren von Gewaltakten, die letztlich die Behörden zu einem Verbot von linken Organisationen drängten – so wie dies auch in Deutschland geschehen sei.

Eine Fröntler-Demonstration in Winterhur. (Foto: ZVG)

Andere SP-Vertreter votierten für eine gezielte Intervention. Einfach nichts tun sei keine Option mehr. Ansonsten breite sich die Frontenbewegung immer weiter aus. Und im Unterschied zu den bisherigen, bürgerlichen Gegnern, die bloss «gewisse materielle Errungenschaften rauben» wollten, bedrohe der Faschismus den «eigentlichen Bestand der Arbeiterbewegung».

Ein Beschluss kommt an der Sitzung allerdings nicht zustande, zu kontrovers sind die Positionen. Erst als sich in den Folgetagen abzeichnet, dass viele Leute, ganz besonders die Jugend, so oder so in Töss aufkreuzen würden, raufen sich die Vertrauensleute zusammen – und hecken einen gewagten Plan aus.

«UNSER KAMPF SEI EIN GEISTESKAMPF!»

Beschlossen wird Folgendes: Eine überschaubare Anzahl von Arbeiteraktivisten soll an der Front-Veranstaltung teilnehmen, sich aber auf braves Zuhören beschränken. Nur Arthur Bachmann, der Chefredaktor der Winterthurer «Arbeiterzeitung», und Albert Bachofner, der Präsident der Arbeiterunion, sollen nach dem Vortrag mit der Front in Diskussion treten. Zudem sollen SP-Leute drinnen für «Saalschutz» und draussen für den «äusseren Dienst» sorgen. Der Arbeiterschaft sei ausserdem zu verbieten, «Waffen und andere Gegenstände» mitzunehmen. Denn: «Unser Kampf sei ein Geisteskampf, den wir mit der Nationalen Front ruhig aufnehmen dürfen.» Wenn schliesslich alles ruhig über die Bühne gegangen ist, sollen die Faschisten «eventuell unter Absingen eines Kampfliedes» bis an die Tössemer Gemeindegrenze wegbegleitet werden. So steht es im Protokoll des Tössemer Parteivorstands. Öffentlich mobilisiert dieser via «Arbeiterzeitung» im Befehlston:

«Die Schweizer Faschisten sind im roten Töss auf Besuch angemeldet. Heute Donnerstag, um 19 Uhr, stellen sie sich unserer Arbeiterbevölkerung vor. Der Empfang findet im Restaurant Freihof statt. Arbeiter von Töss, da sind wir auch dabei! Restlos marschieren wir um 19 Uhr auf, den Anordnungen der sozialdemokratischen Ordner ist bei strengster Disziplin strikte Folge zu leisten. Die Arbeiter aus den übrigen Stadtteilen werden ebenfalls aufgeboten. Der Parteivorstand.»

So viel also zum Plan.

Solche Zettel klebten die Fröntler in einer Nacht- und Nebelaktion in Winterthur.

EIN SPONTANER VOLKSAUFLAUF

Doch nach Plan läuft fast nichts an diesem Donnerstag. Selbst Arbeiterunionschef Albert Bachofner hält sich nicht an die Absprachen. Er bewaffnet sich «für den schlimmsten Fall» mit einer Pistole, wie er später gesteht. Erst recht nicht hält sich das Fussvolk an die Weisungen. Zum einen haben «Marxisten schon in den Nachmittagsstunden die nach Töss führenden Strassen besetzt». Das zumindest berichtet später die «Front», das «Zentrale Kampfblatt» der Nationalen Front. Einen geplanten Marsch vom Bahnhof Winterthur nach Töss muss die Frontenführung daher kurzfristig abblasen. Auch einen bestellten Extrazug aus Zürich annulliert sie. Trotzdem gelingt es einigen Faschisten, zum Freihof zu gelangen – und zwar bereits um 16 Uhr, also lange vor dem Veranstaltungsbeginn. Diese Vorhut nimmt das Restaurant sofort in Beschlag. Anderen Leuten wird der Einlass verwehrt, was die «Front» später mit «Notwehr» begründet. Schliesslich sei ihren Anhängern schon im Vorfeld beschieden worden, «dass man sie in Töss kaputtschlagen werde». Der Eclat ist jedenfalls bereits um 16 Uhr perfekt – und weitet sich nun zügig aus.

FRÖNTLER MIT STAHLRUTEN UND KNÜTTELN

Denn jetzt fordern die ersten SP-Leute Einlass in die als öffentlich angekündigte Veranstaltung. Dazu die «Arbeiterzeitung» am Folgetag:

«Als unsere Leute Einlass begehrten, wurden sie abgewiesen und mit Schlägen traktiert, wobei Stahlruten, Gummischläuche und Bambusrohrknüttel zum Vorschein und in Anwendung kamen. Das liessen sich die Tössemer nicht bieten. Soweit möglich wurden den Herrchen die Schlagwaffen weggerissen, und nun hatten sie selber ihre Anwendung zu spüren. Einige Frontenbrüder wurden ganz jämmerlich verprügelt, wobei es eine ganze Anzahl zerschlagener Köpfe gegeben haben soll.»

Das Spektakel zieht massenhaft Neugierige an. Zumal plötzlich eine Car-Kolonne herbeifährt.

EINE PEINLICHE PROZEDUR

Es sind Faschisten der Zürcher «Hochschulgruppe». Wegen des gecancelten Extrazugs sind sie kurzerhand auf Miet-Cars umgesattelt. Zu ihren Parteifreunden im Freihof werden sie aber nicht durchgelassen. Es gelingt ihnen aber, sich bis zum Hirschen vis-à-vis durchzuschlagen. Auch dieses Lokal gehört quasi zur Infrastruktur der lokalen Linken. 1865 wurde darin der Tössemer Arbeiterverein gegründet.

Im Freihof verschanzten sich die Fröntler. (Foto: ZVG)

Gegenüber im Freihof müssen sich die Frontisten derweil einer peinlichen Prozedur biegen: Sie werden von Büchis Ordnungshütern auf Waffen kontrolliert, wobei SP-Vertreter ihnen dabei helfen. Bei den Leibesvisitationen werden laut «Arbeiterzeitung» «noch etliche Schlagringe und Stahlruten» beschlagnahmt. Dann tritt Arbeitersekretär Bachofner vor die Protestierenden.

BÜEZER VERWEIGERN GEHORSAM

Doch seine Ansage stösst auf wenig Gegenliebe. So zumindest berichtet es später der Augenzeuge und Metallarbeiter Max Ammann:

«Dann erscheint Albert Bachofner […] am Fenster des Freihofs und erklärt, die Versammlung sei aufgelöst, man solle die Teilnehmer abziehen lassen. Abziehen lassen? Das ist für die Menge zu viel. «Ja, die sollen nur kommen, wir ziehen sie gleich ab», so tönt es. […] Es wird zu einem Spiessrutenlauf, wobei sie mehr in der Luft als auf dem Boden sind. Faustschläge und

Fusstritte begleiten die Fröntler, die nach Kräften angespuckt werden.»

Ammans Erinnerungen scheinen tatsächlich zu stimmen. Denn auch die «Arbeiterzeitung» berichtet:

«In der gewaltigen Volksmasse […] wurde eine Gasse gebildet, und die stolzen Frontenjünglinge mussten durch diese Gasse Spiessruten laufen.»

Und noch dramatischer schildert den Vorgang später die «Front»:

«Die Frontisten mussten in Einerkolonne das Haus verlassen. Dabei wurden sie von allen Seiten angespuckt, einzelne Kameraden herausgegriffen und misshandelt. Mehrere erlitten grössere Verletzungen. Ein Kamerad der Hochschulgruppe wurde an den Füssen gepackt, fortgeschleift und schwer verletzt in einen Strassengraben geworfen.»

Damit ist nun auch der Geduldsfaden von Polizeivorsteher Büchi gerissen.

Das Industriequartier Töss und der Ort des Krawalls (rot). (Foto: ZVG)

WINTERTHUR FORDERT KAPO-VERSTÄRKUNG AUS ZÜRICH

Kurz vor 21 Uhr telefoniert Büchi abermals in die Zürcher Kaserne – und fordert diesmal Verstärkung an. Denn die Menge ist bereits weitergezogen und stehe, so Büchi, jetzt «drohend» vor dem Hirschen. Die NZZ wird später von einer «Meute» berichten, die «einer zu jeder Vernichtungstat bereiten Lawine wälzte». Die «Front» behauptet sogar, die Protestierenden hätten den Hirschen in Brand setzen wollen. Tatsächlich geht nicht ein Fenster zu Bruch – und auch sonst bleibt es verhältnismässig ruhig. Bis um 22 Uhr die alarmierten Zürcher Kantonspolizisten heranbrausen.

Die Beamten sind mit Gewehr, Stahlhelm und Tränengas ausgerüstet. Das weckt böse Erinnerungen an die Niederschlagung des Generalstreiks von 1918. Die Menge reagiert mit Pfuirufen und Gejohle. Aber für die im Hirschen festsitzenden Front-Leute ist es die Rettung. Unter Polizeischutz gelangen sie zu ihren Cars und ergreifen die Flucht. Allerdings geht auf die Fahrzeuge ein Steinhagel nieder, weshalb einige Chauffeure ohne die Fahrgäste abfahren. Weitere Steinwürfe folgen am äussersten Stadtrand, und selbst im Nachbardorf Kemptthal fliegen auf Höhe der Maggi-Fabrik noch Gegenstände auf die Vorbeifahrenden. Doch in Töss ist der Aufruhr vorbei – und Polizeivorsteher Büchi hat um Mitternacht endlich Feierabend. Ganz anders die Journalistenzunft.

Das Titelblatt der Front nach dem Krawall. (Foto: Schweizerisches Sozialarchiv)

NACH DEM KRAWALL: SP UNTER DRUCK

Presseleute von Genf bis St. Gallen hauen umgehend in die Tasten. Der «Frontenkrach» in Winterthur bietet schliesslich reichlich Zündstoff. Die NZZ etwa plagen «Winterthurer Sorgen», wobei sie sich erleichtert zeigt über den Kurswechsel bei der SP. Die jetzt unter massivem Druck stehende Partei entledige sich zunehmend ihrer einstigen revolutionären Parolen. Dagegen übten sich die Sozialdemokraten jetzt noch stärker in «demokratischen Beteuerungen», als sie es «seit dem Umschwung in Deutschland» ohnehin bereits täten. Tatsächlich verteidigte das SP-Hauptorgan «Volksrecht» den Krawall entlang einem altbewährten helvetischen Narrativ: Die Faschisten hätten, da sie den Zutritt in eine öffentliche Versammlung verweigert hätten, «unsere demokratischen Bräuche in der Schweiz, das heisst die ganze hundertjährige Tradition des Versammlungsrechtes», missachtet. Ohnehin seien die Methoden der Front «nicht auf schweizerischem Boden gewachsen», und die «frontistischen Ausländereien» würden von «unserer schweizerischen Bevölkerung» abgelehnt.

Und die Winterthurer SP-Leitung? Sie verteidigt das Verhalten der eigenen Basis, obwohl ihr vorgegebener Plan massenhaft missachtet worden ist. Arbeitersekretär Albert Bachofner etwa bemerkt nicht ohne Genugtuung, dass die «Tössemer Giesserfäuste (…) nicht untätig geblieben» seien.

KOMMUNISTEN WOLLEN «KAMPF-ELAN» IN BETRIEB TRAGEN

Noch weiter geht die Kommunistische Partei, die damals in Winterthur nicht über 300 Wählerstimmen hinauskommt. Trotzdem fordert sie, man müsse in den Fabriken jetzt vorgehen wie in Töss gegen die Zürcher «Herrensöhne». Der Krawall sei «eine erste Schlacht gegen die Lohnabbauer», und «mit demselben Kampf-Elan muss jetzt der Streik eröffnet werden zur Verhinderung jedes Rappens Lohnabbau». Der Aufruf verhallt weitgehend wirkungslos. Zum Streik kommt es nicht.

Gehässig zeigt sich nach dem Krawall das freisinnige «Neue Winterthurer Tagblatt», das den Polizeivorsteher Büchi kritisiert: Es sei schliesslich die Aufgabe der staatlichen Organe, «zum Rechten zu sehen […] und wir wollen hoffen, sie werden es künftig auch in Töss tun, wenn die Herren Untertanen nicht die nötige Disziplin im Leibe haben».

«UNTERTANEN» DISZIPLINIERT – AUSSER BEIM FUSSBALL

Das Kesseltreiben gegen die Arbeiterschaft bleibt nicht ohne Wirkung. So versammeln sich die Winterthurer «Herren Untertanen» in den Folgejahren nie mehr zu einem solchen Protest gegen die Frontenbewegung. Und dies, obwohl die Faschisten bereits im November 1934 eine Parteiversammlung mit 8000 Personen auf der Schützenwiese veranstalten. 1935 marschiert die Front sogar demonstrativ durch Töss – ungestört.

Eine Fröntler-Demo im Jahr 1935 vor dem Hischen in Töss.

Erst am 2. Mai 1937 kocht die Wut wieder über. An jenem Tag spielt die deutsche Fussball-Nationalelf im Zürcher Hardturm gegen die schweizerische und besiegt diese mit einem Tor. Als die deutschen Fans via Töss und Winterthur nach Hause fahren, schwenken sie Hakenkreuzflaggen, recken die Arme zum Hitlergruss, werfen demonstrativ Abfall aus ihren Wagen in die Strassen des bekannten roten Arbeiterquartiers und beleidigen die lokale Bevölkerung durch das Schwingen einer Kuhglocke. Das geht vielen zu weit. Von Töss bis zum Hauptbahnhof begleiten laut «Neuem Winterhurer Tagblatt», «Lärmmacher» und «Radaubrüder» die deutschen Autoreisenden. Manchen Fans wird im Vorbeifahren «das Hakenkreuzfähnchen aus der Hand gerissen, dann verbrannt oder zerschnitten». Zudem werden die Deutschen mit «Rot-Front» begrüsst und «zum Teil in unflätiger Weise» beschimpft. Wieder erweist sich Töss als heikler Unruheherd. Und zwar offenbar als ein so heikler, dass sich diesmal sogar der Bundesrat in Berlin entschuldigt für das Verhalten des Pöbels.

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