Nobelpreisträgerin und Lohngleichheits- forscherin Claudia Goldin:

Arbeitswelt bestraft die Mütter

Jana Freundt

Claudia Goldin (77) hat als ­erste Frau alleine den Nobelpreis für ­Wirtschaft erhalten für ihr ­Lebenswerk über Lohnarbeit der Frauen und Lohnungleichheit. Die Freiburger Ökonomin Dr. Jana Freundt erklärt Goldins wichtigste Erkenntnisse.

NOBEL AUSGEZEICHNET: Ökonomin Claudia Goldin an der Preisverleihung am 10. Dezember in Stockholm. (Foto: Getty Images)

Lohnungleichheit ist ein emotional diskutiertes Thema. Zu Recht, betrifft es doch viele Frauen direkt in ihrem Alltag. Endlich ist dies auch in der Ökonomie angekommen: Mit dem Verleihen des Nobelpreises an Claudia Goldin wurde das Thema in den wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream gerückt.

Was schreibt Goldin über Lohnungleichheit, und wie sieht dies in der Schweiz aus? 2020 verdienten Frauen im Durchschnitt 18 Prozent weniger als Männer (betrachtet wird der auf Vollzeit standardisierte Bruttolohn). Das vermeldet das Bundesamt für Statistik. Dieser Unterschied ist im Schnitt grösser, je höher die berufliche Stellung. Zwischen den Branchen ist der Lohnunterschied verschieden gross, er existiert jedoch überall. Auffallend ist, dass der Lohnunterschied erst in der Altersgruppe ab dreissig substantiell grösser wird, aber dazu ­später mehr.

PERMANENTE VERFÜGBARKEIT

Bei der Messung von Lohnungleichheit in Unternehmen wird der Lohn üblicherweise in zwei Komponenten unterteilt. Der sogenannte «erklärte Anteil» ist der Teil an der Lohnungleichheit, der durch Unterschiede in Ausbildung, Erfahrung, Anforderungen des Stellenprofils, Branche usw. erklärt werden kann. So findet man etwa an mehreren Schweizer Universitäten keine einzige von einer Frau besetzte ordentliche Professur in der Volkswirtschaftslehre. Dieser erklärte Anteil wird in der Schweiz auf etwas mehr als die Hälfte des gesamten Lohnunterschieds geschätzt. Er hat sich in den letzten Jahrzehnten in vielen Ländern stark reduziert, weil die Frauen zum Beispiel bei Bildungsabschlüssen «aufgeholt» haben. Der restliche Lohnunterschied wird «nicht erklärter» Anteil genannt. Ein nicht unerheblicher Anteil der durchschnittlichen Lohndifferenz zwischen Männern und Frauen kann nicht durch objektiv beobachtbare Fakten erklärt werden. Was ist nun dieser «nicht erklärte» Teil der Lohnungleichheit?

Ökonomin Jana Freundt.

Er wird häufig als Diskriminierung interpretiert, kann aber theoretisch auch Faktoren beinhalten wie weniger kompetitives Verhalten von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Für letzteres gibt es jedoch kaum empirische Belege – eine  Studie von 2016, die dies zu zeigen schien, wur­de inzwischen von anderen Forscherteams nicht bestätigt. Eine weitere Erklärung diskutiert Nobelpreisträgerin Claudia Goldin in ihrer Arbeit: Sie beobachtete, dass Löhne in vielen Branchen nicht proportional zu der Anzahl Wochenarbeitsstunden steigen, sondern hohe Wochenarbeitszeiten überproportional belohnt werden. Dies betrifft meist sehr gut bezahlte Jobs, in denen eine ständige Verfügbarkeit gefordert wird. In diesen Berufen sei die Lohnungleichheit besonders stark, sagt Goldin. Dieses Problem geht tiefer als die Betrachtung von Lohnunterschieden. Es berührt auch eine hierbei zunächst ausgeklammerte Frage: Warum kommen Frauen und Männer in die jeweiligen beruflichen Positionen? Was bedingt die unterschiedlichen Karrierewege? Diskriminierung oder unterschiedliche Werte und Präferenzen spielen hier eine Rolle. Aber möglicherweise nicht die wichtigste.

Die Forderung nach ständiger zeitlicher Verfügbarkeit wird spätestens bei der Geburt des ersten Kindes zum Problem. Besonders für die Frauen. In der Tat ist zu diesem Zeitpunkt ein Auseinanderklaffen der Löhne von Müttern und Vätern zu beobachten. Goldins Beobachtung erklärt zwar die ungleiche Aufteilung von Kinderbetreuung und Arbeit zwischen Eltern, aber nicht, warum es meistens die Frau ist, die zurücksteckt. Hier braucht es weitere Erklärungsansätze. Konservative gesellschaftliche Normen spielen hier sicherlich eine Rolle. In der Tat zeigt eine Umfrage, die ich 2022 zusammen mit Ecoplan im Auftrag des Seco durchführte, dass konservative Einstellungen gegenüber Kinderbetreuung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Schweiz weit verbreitet sind.

KONSERVATIVES FAMILIENBILD

Was tun? Heutzutage streben immer mehr Frauen und Männer eine gleichberechtigte Aufteilung von Haus- und Erwerbsarbeit an. Und das wird, sagt Goldins Forschung, auf dem Arbeitsmarkt «bestraft»: Wenn Paare Hausarbeit und Kin­­derbetreuung gleichberechtigt aufteilen, kann niemand im Job voll verfügbar sein. In der Schweiz kommen sehr teure Kinderbetreuung und eine «Gleichberechtigungsstrafe» in der Einkommenssteuer und Sozialversicherung für Ehepartner hinzu. Die Schweizer Institutionen belohnen also eine ungleiche Rollenverteilung und zementieren damit jene oben erwähnten konservativen Normen. Letztlich ist es eine gesellschaftliche Frage: Sollen Paare sich entscheiden müssen, ob sie lieber gleichberechtigt leben oder ein höheres Haushaltseinkommen haben wollen?

Die Struktur des heutigen Arbeitsmarktes und die institutionellen Anreize spielen eine wichtige Rolle für unsere Entscheidungen. Menschen entscheiden sich nicht in einem Vakuum, sondern innerhalb von Institutionen. Und sie reagieren auf finanzielle Anreize. Claudia Goldins Schlussfolgerung: Wir brauchen fundamentale Änderungen in der Art, wie wir arbeiten und wie wir Care-Arbeit wertschätzen. Sonst erreichen wir nie Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern. Wir sind in einer veralteten Arbeitswelt gefangen – die Strukturen am Arbeitsmarkt haben sich nicht verändert, seit Frauen an ihm teilnehmen. Eine Anpassung dieser Strukturen an die gesellschaftliche Realität ist überfällig.

* Dr. Jana Freundt forscht am Departement für Volks­wirtschaftslehre der Universität Freiburg im Bereich der Verhaltensökonomik und der politischen Ökonomie.

work-Standpunkt: Feministin Goldin

Erstmals erhält mit Harvard-Professorin Claudia Goldin eine Frau alleine den noblen Nobelpreis. Sie hat die Geschichte und die Entwicklung der Erwerbsarbeit der Frauen ­erforscht. Und schon wird in den Zürcher Mainstream-Medien an Goldins Thesen ­gezerrt und gerupft – bis sie ins offenbar angesagte antifeministische Schema passen. Und dies nicht etwa von ewigen Machos. Sondern weibliche Journalistinnen posaunen nun in die Welt hinaus, Professorin Goldin sage: Frauen seien beim Lohn gar nicht diskriminiert. No Gender-Pay-Gap, nix, nada, ­niente! Denn das Problem liege «kaum je beim Chef», sondern «bei den Frauen selber». Selber schuld! Seien nämlich erst mal Kinder da, komme bei den Frauen der Wunsch auf, in einem kleineren Pensum zu arbeiten. Ganz und gar freiwillig, versteht sich.

EXPLOSIV. Aber: Was sagt Ökonomin Goldin wirklich zur Diskriminierung der Frauen auf dem Erwerbsarbeitsmarkt? work fragte Ökonomin Jana Freundt (siehe Artikel links), und sie weiss Hochexplosives zu berichten. Nämlich, dass der Arbeitsmarkt Paare bestraft, die gleichberechtigt leben und arbeiten wollen. Weil er immer noch auf den Mann ausgerichtet ist, den «immer verfügbaren».

ZÜNDSTOFF. Und da können Frauen besonders dann nicht mehr mithalten, wenn sie Mütter werden: Denn irgendwer muss ja die Reproduktionsarbeit erledigen. Und das ist in den meisten Fällen immer noch die Frau. Küche, Kinder, Kranke pflegen. Und sie soll’s gratis machen. Das ist das Kalkül des kalten Kapitalismus: Reproduktionsarbeit wird nicht zur produktiven Arbeit gerechnet, sondern als Privatangelegenheit. Als Privatsache der Frauen. Claudia Goldins Fazit: Wir sind in ­einer veralteten Arbeitswelt gefangen. So wird das nie was mit der Gleichstellung. Was wir brauchen, ist eine fundamentale Änderung in der Art, wie wir arbeiten und wie wir Care-Arbeit wertschätzen. Wenn das kein feministischer Zündstoff ist!  (Marie-Josée Kuhn)

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