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Elektrotechnikerin Grazia Prezioso (48):«Ich mache überall Revolution!»

Iwan Schauwecker

Grazia Prezioso hat sich in den ­letzten 13 Jahren von der Reinigerin zur Qualitätsprüferin ­hochgearbeitet. Mit der Unia kämpft sie für alle Frauen in der Arbeitswelt.

ELEKTROTECHNIKERIN Grazia Prezioso (48) weicht vor keinem Konflikt zurück. (Foto: Michael Schoch)

work trifft die gelernte Elektrotechnikerin Grazia Prezioso (48) in ihrem Zuhause, einer kleinen Wohnung an einer Bahnlinie in Winterthur, wo sie mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern (16 und 12) lebt. Die gebürtige Apulierin mit der auffällig breiten Brille legt sofort los: «Ich bin eine Rebellin und mache überall Revolution, aber bei Micronel, da, wo ich jetzt arbeite, habe ich meine Ruhe gefunden. Ich lache sehr viel und habe Spass. Ich will hierbleiben bis zur Pensionierung.» Prezioso erzählt, dass sie jetzt gerade eine Weiterbildung in Qualitätsmanagement und als ­Auditorin absolviert habe. Das rechne sie ihren Chefs hoch an, dass sie ihr diese Weiterbildung finanziert hätten, obwohl sie immer noch nicht ganz so gut Deutsch spreche.

QUALITÄTSKONTROLLE. Ein typischer Arbeitstag beginnt für Prezioso um 7 Uhr morgens in der Fabrik in Tagelswangen ZH. «Ich beginne gerne früh, damit ich am späteren Nachmittag auch noch meine Töchter ins Training bringen kann, auch wenn ich 100 Prozent arbeite.» Prezioso ist bei Micronel, einem Hersteller von Miniaturlüftern, in der Wareneingangskontrolle als Qualitätsprüferin tätig. Die Ventilatoren, die in der Fabrik montiert werden, bestehen aus Dutzenden von unterschied­lichen Teilen aus Metall, Plastic, Gummi und Elektroplatinen. Für jedes Teil gibt es eine Spezifikation. Wenn ein Teil nicht konform ist, schreibt Prezioso eine Beanstandung an den Lieferanten. Prezioso arbeitet auch gerne mit den Technikerinnen und Technikern im Haus zusammen. Schon immer sei sie eine Tüftlerin gewesen und habe sich in typischen «Männerberufen» wohl gefühlt. Sie sei auch fixiert auf Robotik und künstliche Intelligenz und nutze Chat GPT sowohl bei der Arbeit wie auch in der Freizeit. Und wenn es zu Hause etwas zu reparieren gebe, kümmere sie sich darum – nicht ihr Mann.

KENNERIN DER MEDTECHBRANCHE. Seit drei Jahren arbeitet Prezioso nun bei der Micronel AG: «Wir entwickeln und vertreiben Miniaturgebläse für Luftdruckpumpen. Diese kommen vor allem in Spitälern in medizinischen Geräten zum Einsatz», erklärt sie. Prezioso hat verschiedene Stationen in Industriebetrieben hinter sich. Zuletzt war sie bei der Medizinaltechnikfirma Zimmer Biomet, die früher zu Sulzer Medica gehörte. Dort arbeitete sie während Monaten Nachtschicht im Reinraum, wo sie unter sterilen Bedingungen im Schutzanzug Prothesen verpackte. Das war auch der Moment, in dem sie Unia-Mitglied wurde. «Ich habe eine Petition für eine Reinraumzulage lanciert, aber danach wurde ich von den Chefs als rebellische Frau gemobbt», erinnert sie sich. Mit den anderen Frauen aus der Nachtschicht stellte sie Forderungen auf. Als Reaktion setzte ihre Firma sie auf die Strasse. «Das Motto dieser Chefs war: Wegwerfen und eine Neue einstellen», sagt sie. Am Ende sei sie aber froh gewesen, dass sie wegkam. Wegen der Nachtschichten und der strengen Arbeitsbedingungen im Reinraum hätte sie auch grosse gesundheitliche Probleme gehabt. «Ich hatte am ganzen Körper Herpes und bin einen Monat ausgefallen.»

Foto: Michael Schoch

ARMBRUSTSCHÜTZIN. Die jetzige Arbeit habe ihr ganzes Leben zum Besseren verändert. Sie verdiene jetzt den grösseren Teil des Familien­einkommens. Als die Familie 2010 mit der dreijährigen Tochter in die Schweiz gekommen sei, sei das noch ganz anders gewesen. Damals lebten sie in dem Angestelltenzimmer eines Restaurants in Meilen ZH. Mit dem Gastro-Lohn ihres Mannes konnten sie sich kaum etwas leisten.

Über die Vermittlungsfirma Adecco begann Prezioso damals als Reinigerin zu arbeiten und startete auch mit einem Deutschkurs. Heute, 13 Jahre später, ist sie im Einbürgerungsprozess. «Ich bin jetzt sogar im Armbrustverein Effretikon.» Prezioso ist aber nicht nur Armbrustschützin, sie ist auch aktives Mitglied der «Bewegung für Sozialismus». Und bei der Unia ist Prezioso inzwischen Präsidentin der IG Frauen, in der SGB-Kommission und im Regiovorstand. Auch bei Micronel hat Prezioso viel für das Sozialleben in der Firma getan: Mit geselligen Pausen bei Schokolade und Kuchen habe sie angefangen, und inzwischen organisiere sie regelmässig gemeinsame Mittagessen. Sie seien im Team jetzt wie eine Familie: «Ich merke gar nicht mehr, wie streng die Arbeit eigentlich ist, wir haben hier ein Vertrauensverhältnis und ein gutes Klima geschaffen.»

Mit der Unia will Prezioso weiterkämpfen, Gesamtarbeitsverträge verbessern und gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz vorgehen. Das sei in der Schweiz vielfach ein Tabuthema. «Wenn du träumst, träume gross.» Denn in der Rea­lität würden die Träume immer zu einem kleinen Punkt. Auf ein Vorbild angesprochen, sagt Prezioso, dass ihre ältere Tochter Sophia ihr Vorbild sei. Sie sei eine Kämpferin, und sie habe Ausdauer. Das mache sie als Mutter sehr stolz. Draussen vor dem Haus trainiert die Tochter unermüdlich mit dem Springseil in der Dunkelheit.


Grazia Prezioso Sie tüftelt und tanzt

Grazia Prezioso ist mit vier Geschwistern in Süditalien aufgewachsen. Sie machte eine Ausbildung als Elektrotechnikerin und begann ein Physikstudium. Während des Stu­diums lernte sie ihren Mann kennen. Mit ihm tanzt sie auch gerne Salsa
und Bachata und diskutiert über Feminismus.

MAFIA. In Apulien wurde das Auto der Familie Prezioso von einer mafiösen Bande zerstört, weil sie sich gegen krumme Machenschaften ihres Arbeitgebers zur Wehr setzen wollten. Seither hat Prezioso wiederkehrende Panikattacken. Grazia Prezioso lebt seit dreizehn Jahren in der Schweiz. Ihre ältere Tochter ist eine der besten Kunstrollschuhfahrerinnen der Schweiz.

1 Kommentar

  1. Nicolas

    Super gemacht Grazia! Mach weiter so! Ich freu mich, dich als Arbeitskollegin zu haben 😉

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