Tessin: Skandal-Entlassung bei der Post

Pöstlerin fordert planbare Zustelltouren – und wird geschasst

Raffaella Brignoni*

Weil sie ihr Kind pünktlich vom Kindergarten abholen wollte, stellte die Post eine Tessiner Pöstlerin auf die Strasse. Zu Unrecht, urteilten die Gerichte. Doch die Post muss sie trotzdem nicht wieder anstellen.

EISKALT ABSERVIERT: Statt einer jungen Mutter die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen, schickte die Post ihr die Kündigung. (Symbolbild: Keystone)

Es ist ein haarsträubender Fall: Eine Pöstlerin hatte darum gebeten, ihre Zustelltouren jeweils um 12.30 Uhr abzuschliessen, um ihre Tochter pünktlich vom Kindergarten abholen zu können. Daraufhin hat die Post die Frau, die zu einem 60-Prozent-Pensum angestellt war, entlassen.

Für Chiara Landi, Unia-Sekretärin und Präsidentin der SGB-Frauen Tessin, ist klar: «Diese Frau wurde entlassen, weil sie ihre Rechte einforderte. Das ist ein typischer Fall einer missbräuchlichen Kündigung.» Solche Entlassungen hätten nicht nur gravierende Auswirkungen auf das Berufs­leben, sondern auch auf das Privatleben und die Gesundheit der Betroffenen.

«Solche Fälle sind nicht mehr tolerierbar.»

ZWEIFELHAFTE UNTERNEHMENSPOLITIK

Die Pöstlerin war Teil der Personalkommission und forderte planbare Arbeitszeiten, um Familie und Beruf besser zu vereinbaren. Marco Forte, Regioleiter der Syndicom im Tessin, erklärt: «Die Post wollte den Forderungen der Mitarbeiterin nicht nachkommen, weil sie keinen Präzedenzfall schaffen wollte. Und um Teilzeitarbeitende auch weiterhin möglichst flexibel einsetzen zu können.»

Forte erklärt dieses Vorgehen mit der Unternehmenspolitik der Post. Sie wolle «immer weniger Vollzeitstellen garantieren, während Teilzeitarbeitende über lange Zeiträume für viel mehr Stunden eingesetzt werden, als es ihrem tatsächlichen Pensum entsprechen würde». Eine solche Arbeitsorganisation bedeutet für Pöstler und insbesondere Pöstlerinnen zunehmend Druck, weil sie so Beruf und Familie kaum unter einen Hut bringen. Für SGB-Frau Landi ist klar: «Solche Fälle sind nicht mehr ­tolerierbar.» Ohne Schutz vor missbräuchlicher Kündigung sei jedes Arbeitsverhältnis an sich schon prekär, und die einzelnen Arbeitneh­menden, ihre Familien und die gesamte Gesellschaft würden weiterhin einen sehr hohen Preis zahlen.

BESSERER KÜNDIGUNGSSCHUTZ

Deshalb fordern die Gewerkschaft Syndicom und der Schweizerische Gewerkschaftsbund den Bundesrat auf, einzugreifen, um die Gesetzeslücken bei ungerechtfertigten Kündigungen zu schliessen. Denn, so Landi, Frauen seien von ungerechten und diskriminierenden Kündigungen be­sonders betroffen. Zusätzlich stossend: der Fall ­ereignete sich 2017. Die Tessiner Gerichte erklärten seither die Entlassung als missbräuchlich. Trotzdem ist die Post, die zu 100 Prozent dem Bund gehört, nicht verpflichtet, die Frau wieder einzustellen. Für Syndicom-Mann Forte ist es nicht länger hinnehmbar, dass sich die gelbe Riesin weigert, die Frau wieder zu beschäftigen, obwohl «die zuständigen Justizbehörden die Kündigung als missbräuchlich anerkannt haben».

Für die Gewerkschaften bestätigt dieser Fall aus dem Kanton Tessin die Schwäche des Kündigungsschutzes in der Schweiz, besonders auch hinsichtlich antigewerkschaftlicher Kündigungen. Gewerkschafter Forte: «Die Lücken sind enorm, so sehr, dass die Schweiz aus diesem Grund sogar auf der schwarzen Liste der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) steht.» Der Kampf der Pöstlerin für ihre Rechte muss für Marco Forte «der Ausgangspunkt für eine Gesetzesänderung sein, hin zum mehr Schutz für jene, die für ihre Rechte und die ihrer Kolleginnen und Kollegen kämpfen».

* Dieser Artikel erschien zuerst in der italienisch­sprachigen Unia-Zeitung Area.

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