Streiks in Frankreich  Die Reform wird zur Regimekrise

Macron spielt mit dem Feuer

Oliver Fahrni

Präsident Macrons Rentenprojekt ist so ­un­gerecht und schlecht aufgegleist, dass eine Mehrheit die Reform ­ablehnt. Doch Macron boxt sie durch – mit Chaos und Gewalt.

DIE STRASSE BRENNT: Der Einsatz polizeilicher Schlägertruppen in den Städten lässt den friedlich begonnenen Konflikt eskalieren. (Foto: Getty)

Ein Mann steht auf einem Boulevard in ­Paris. Er protestiert gegen die Erhöhung des Rentenalters. Da schlägt ihm ein Polizist mit voller Wucht den Schlagstock ins Gesicht. Der Mann fällt, schwer verletzt. ­Gefilmt hat die Attacke Laurent Bigot, ein französischer Ex-Diplomat. Spürbar erschüttert sagt Bigot: «Mein Land ist kein Rechtsstaat mehr.»
Ein paar Hundert Meter weiter fällt die berüchtigte «Einheit 12» der Pariser Polizei über eine Gruppe älterer Frauen und Männer her. Die Robocops schlagen und treten sie nieder und prügeln am Boden weiter auf sie ein. Schreie, Blut. Später liegt ein Journalist bewusstlos auf dem Asphalt, Schädelbruch, zertrümmerte Hand. Auf Journa­listen und Fotografinnen haben es die ­Polizisten besonders abgesehen. Sie hassen Zeugen. Ein Offizier brüllt eine schmächtige Schülerin in Handschellen an: «Du wirst Scheisse fressen.» Und immer wieder sorgen die «Brav-M», hochgerüstete Polizisten auf Motorrädern, für Terror.

In einer funktionierenden Demokratie würde ein Gesetz, das alle Mehrheiten gegen sich hat, zurückgezogen. Nicht in der Macronie.

TOTENGRÄBER MACRON

Solche Jagdszenen sind gerade alltäglich in 200 französischen Städten. Denn Präsident Emmanuel Macron und sein Innenminister Gérald Darmanin, der ideologisch der extremen Rechten nahesteht, haben zur Hatz auf die Millionen Menschen geblasen, die seit drei Monaten gegen Macrons Rentenreform protestieren. Mindestens zwei Drittel der Französinnen und Franzosen lehnen sie ab.

Es ist die grösste soziale Bewegung in Frankreich seit einem halben Jahrhundert. Angeführt von einem Bündnis der 13 grossen Gewerkschaftsverbände. Von Beginn weg hat sich diese Intersyndicale strikte an demokratische Spielregeln gehalten. Alle Streiks wurden angemeldet. Gewerkschaftliche Ordnungsdienste kanalisierten die Demonstrationen. So blieb der Protest bunt, familiär und vorerst gewaltlos. Doch Macron verweigert seit Dezember 2022 jedes Gespräch. Er will keine gute Lösung, er will die Gewerkschaften eliminieren.

Sein Rentenprojekt ist so ungerecht und schlecht aufgegleist, dass nicht einmal neoliberale Strippenzieher wie Jacques ­Attali, der Macrons Karriere gestartet hatte, daran einen guten Faden lassen. In einer funktionierenden Demokratie würde ein Gesetz, das alle Mehrheiten gegen sich hat, zurückgezogen. Nicht in der Macronie. Als am 8. März mehr als 3 Millionen Menschen auf die Strasse gingen, verschärfte der Präsident die Auseinandersetzung, Innenminister Darmanin liess präventiv Gewerkschafter verhaften, und seine Truppe griff den Ordnungsdienst der Intersyndicale an. Am 16. März drückte Macron das Gesetz kurzerhand am Parlament vorbei durch.

Die Tageszeitung «Libération» kommentierte: «Macron ist der Totengräber von Frankreichs Demokratie.» Am selben Abend begann auf der Place de la Concorde in Paris, wo man zu Revolutionszeiten König und Adel guillotinierte, die Repression durch die Ordnungskräfte.

ANGST SOLL REGIEREN

Regieren durch Chaos und Repression ist eine bewusste politische Strategie auf dem Weg zu einem autoritären Regime. Eine Zahl illus­triert dies: Gegen weniger als acht Prozent der Verhafteten konnte irgendeine Anklage erhoben werden, trotz flächen­deckender Kameraüberwachung und Gummi-Delikten wie «Versammlung für eine mögliche Straftat». Massenverhaftungen und brutale Einschüchterung dienen ­allein dazu, die Mehrheit davon abzuhalten, ihr Grundrecht auf Demonstration wahr­zunehmen. Angst soll regieren, die Streiks in den Raffinerien, in AKW, bei Bahn und Müllabfuhr und anderswo sollen gebrochen werden.

Rentenreform: Massive Konstruktionsfehler

Macrons Reform erhöht das Rentenalter auf 64 Jahre. Die volle Rente erhält aber nur, wer 43 Jahre in die Rentenkasse einbezahlt hat. Dies benachteiligt alle, die früh in das Berufsleben einsteigen, weil sie länger einzahlen, und zwingt andere, die etwa mit 24 einsteigen, bis zu ihrem 67. Lebensjahr zu arbeiten.

VERFASSUNGSRAT AM ZUG: Macron begründet dies mit einem künftigen Rentenloch von 13,5 Milliarden (2030). In Wahrheit erlässt er den Unternehmen schon heute ­Sozialbeiträge für 60 Milliarden Euro. Auf Antrag der Linken prüft jetzt der Verfassungsrat das Gesetz. (olf)

Also goss der Präsident noch mehr Benzin ins Feuer. In einem TV-Interview erklärte er «der Menge» den sozialen Krieg. Seither mehren sich spontane Demos, Besetzungen und sogar Strassenschlachten. In ­einer Blitz-Radikalisierung hat sich die scheinbar resignierte Jugend politisches Bewusstsein zugelegt. Nur noch mit grösster Mühe halten die von Macron verhöhnten Gewerkschaften ihre Basis bei der Stange. Manche Arbeitenden greifen zu Robin-Hood-Aktionen: so kappen sie etwa Politikern den Strom, schalten aber Kantinen, Spitäler, Sozialwohnungen auf Gratisstrom. Ein Teil der Gewerkschaften drängt heftig zum Generalstreik.

Gut, findet ein Präsidentenberater: «Es schadet nicht, wenn das Land ein wenig brennt. So wird Macron der letzte Garant gegen die linke Gewalt.» François Ruffin, ein prominenter Abgeordneter der links-ökologischen LFI sagt: «Den Gefallen Gewalt tun wir Macron nicht. Wir sind Demokraten. Die Gewalt geht ganz von ihm aus.

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