Genfer Nationalrätin, Historikerin und Arbeiterkind: Stéfanie Prezioso über den Faschismus in Italien und die neue PD-Chefin Elly Schlein

«Hoffnung für die frustrierte Jugend Italiens»

Oliver Fahrni

Die neue Vorsitzende von Italiens Demokratischer Partei, Elly Schlein, will der neofaschistischen Regierungschefin Giorgia Meloni die Stirn bieten. work hat mit der linken Genfer Nationalrätin und Faschismusforscherin Stéfanie Prezioso über das ungleiche Kräftemessen gesprochen.

NATIONALRÄTIN UND FASCHISMUSEXPERTIN STÉFANIE PREZIOSO: «Der Aufstieg der Rechtsextremen wäre ohne die Krise der Linken nicht möglich gewesen. Diese hat sich quasi in Luft aufgelöst.» (Foto: Thomas Kern)

work: Frau Nationalrätin, wie dürfen wir Sie nennen? In Ihrem Pass steht Stefania, Ihre Texte und Bücher aber signieren Sie als Stéfanie.

«Die Wirtschaftspolitik von Meloni ist neoliberal…»

Stéfanie Prezioso: In der Arbeiterkultur von La Chaux-de-Fonds, wo ich geboren wurde, war Stefania kein Problem. Mein Vater kam aus Neapel, meine Mutter aus Sizilien. Sie war Feministin und Mitglied der Kommunistischen Partei, das war aussergewöhnlich in jener Zeit. Als meine Eltern in der Uhrenkrise vor 1980 ihre Arbeit verloren, sind wir nach Yverdon umgezogen. Dort haben sie einen kleinen Laden betrieben, und ich habe als Immigrantenkind zum ersten Mal Ausgrenzung, Diskriminierungen und Fremdenfeindlichkeit erlebt. Da war es einfacher, mich Stéfanie zu nennen (sie lächelt). Aber es ist dieselbe Frau …

Sie beschreiben das ziemlich unaufgeregt.

Manchmal war es schon hart. Jedenfalls weiss ich, wie sich heute Migrantinnen oder Flüchtlinge unter dem täglichen SVP-Rassismus fühlen müssen.

Inzwischen kennt man Sie als international anerkannte Historikerin des italienischen Faschismus. Im vergangenen Oktober hat Italien die Neofaschistin Giorgia Meloni zur Regierungschefin gewählt. Waren Sie überrascht, dass Ihr Thema plötzlich so brennend aktuell war?

Nein, wie hätte mich das überraschen können? Meloni ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen Entwicklung, einer Kontinuität. Die Bürgerlichen haben das Regime Mussolinis schon lange banalisiert und beschönigt. In den 1980er Jahren machten sie Stimmung gegen links mit dem Slogan, weit schlimmer als der Faschismus sei der Antifaschismus. Silvio Berlusconi liess sich mit Mussolini vergleichen, 1995 baute er eine Koalition mit den Postfaschisten, und schon 2001 machte er den bekennenden Mussolini-Verehrer Gianfranco Fini zum stellvertretenden Regierungschef. Meloni stellt sich gerne als neue Antisystem-Politikerin dar, doch in Wahrheit war sie vor 15 Jahren unter Berlusconi Jugendministerin. Auch andere politische Kräfte sind Teil dieser Kontinuität. Die Lega von Matteo Salvini trennen nur Nuancen von Melonis Fratelli d’Italia, und sogar die Fünf-Sterne-Bewegung Beppe Grillos flirtet regelmässig mit rechtsextremen Themen, etwa der «Überfremdung». Wie der Historiker Emilio Gentile notierte: «In Italien ist der Faschismus nie verschwunden.»

Und doch sind Sie gegenüber Begriffen wie Neofaschismus oder Postfaschismus eher skeptisch?

Stimmt. Fraglos ist Meloni die direkte Erbin des italienischen Faschismus. Sie ist fremdenfeindlich mit klar rassistischen Zügen. Sie verachtet die Demokratie und neigt einem autoritären Regime zu. Ihre Politik ist nationalistisch und brutal patriarchalisch strukturiert. Sie ist eine militante Christin, antisozial, antigewerkschaftlich, antiökologisch. Doch frage ich mich, ob historische Etiketten wie Post- oder Neofaschismus nützlich sind, um das Phänomen der stark gewachsenen extremen Rechten in seiner ganzen aktuellen Dimension wirklich zu verstehen und zu bekämpfen.

Meloni zeigt sich bisher eher gemässigt.

Logisch, schliesslich muss sie an die vielen ­Milliarden Euro kommen, welche die EU Italien versprochen hat. Hier liegt ein entscheidender Punkt. Melonis Wirtschaftspolitik ist neoliberal. Sie hat nichts gegen Privatisierungen und EU-Sparbefehle. Ihr ultrarechtes Programm geht mit den Interessen des Kapitals zusammen. Ein autoritärer Neoliberalismus gefällt den Aktionärinnen und Aktionären. Umso leichter fällt es ihr, die Respektable zu spielen. Aber damit täuscht sie niemanden wirklich. Die rechten Schläger, die Schüler in Florenz angegriffen haben, haben dieselbe Adresse wie die Fratelli d’Italia. Als die Schulleiterin den Überfall in einem Brief mit dem Aufstieg des Faschismus verglich, drohte ihr Melonis Minister mit Entlassung. Der Faschismus beginnt auf der Strasse.

Umso erstaunlicher, wie lau die Reaktion der Demokraten ausfiel. Gegen den rechtsextremen Anschlag auf die Gewerkschaft CGIL Ende 2021 hatten noch Hunderttausende demonstriert.

Diesmal gab es eine wichtige Demo in Florenz, viel mehr nicht. Das war frappant, aber zeigt die andere Seite des Aufstiegs der Rechtsextremen: Er wäre ohne die Krise der Linken nicht möglich gewesen. Diese hat sich quasi in Luft aufgelöst. Links ist praktisch eine Wüste.

Dabei war die Kommunistische Partei Italiens über Jahrzehnte die stärkste politische Kraft im Lande, mit einer eigenen Kultur.

Tempi passati. Die KP, diese grosse antifaschistische Kraft, hat sich zuerst mit den Resten der Christdemokraten verschmolzen, dann in mehreren Etappen zur Demokratischen Partei (PD)verdünnt. Schliesslich hat sie sich 2014 unter Matteo Renzi sogar hart neoliberal gegen die Arbeitenden und die Gewerkschaften gewendet. Seither sind ihr die Mitglieder davongelaufen. Und in diesen Strudel der Selbstauflösung hat sie die anderen linken Bewegungen mitgerissen, sogar die Refondazione, die 2010 noch eine nationale Kraft war.

Trotzdem bleibt der PD die einzige ernstzunehmende Partei, die sich «links» nennt?

Ja, aber eine Partei ohne Klassenbewusstsein und ohne glaubhafte Vision für die Zukunft, ohne Horizont, ohne Hoffnung. Die Chefs der Demokraten tragen eine hohe Verantwortung am Malaise und der Verwirrung der italienischen Gesellschaft.

Die gute Nachricht aber heisst: die ­Wüste lebt. Ende Februar hat der PD mit Elly Schlein eine Aussenseiterin zur neuen ­Vorsitzenden gewählt. Es war eine ­kleine Revolution. In der Nacht ihrer Wahl­ jubelte Schlein: «Sie haben uns nicht ­kommen sehen.»

Elly Schlein hat die Wahl unter den PD-Mitgliedern verloren, dann aber die Wahl der Sympathisanten deutlich für sich entschieden. Sie ist gewissermassen um die Partei herumgegangen, um ihre Führung zu übernehmen. 2015 hatte sie die Partei verlassen, aus Protest gegen Renzis «Job-Act», der die Rechte der Arbeitenden zugunsten des Kapitals geschleift hat. Mit der Protestbewegung «Occupy PD» hat sie damals eine Linkswende gefordert. Wieder in die Partei eingetreten ist sie erst kurz vor dieser Wahl.

«…sie hat nichts gegen Privatisierungen und EU-Sparbefehle.»

Kann das funktionieren? Es gibt einen Spruch bei den Demokraten: Wer die ­Primärwahl gewinnt, verliert die Partei.

Stimmt. Sie muss mit erheblichen Widerständen rechnen. Die alten Seilschaften, die diese frühere Volkspartei heruntergewirtschaftet und ausgehöhlt haben, sind alle noch da. Ihr schwierigster Job wird sein, den PD zusammenzuhalten. Sie baut auf Trümmern. Die alte Führungsclique hat ganze Regionen, die früher links ­gewählt hatten, aufgegeben und viele Hoch­burgen verloren. Schlein muss die Basis wieder stärken und in die ­Regionen investieren. Will sie dafür etwas Spielraum gewinnen, muss sie nun sehr schnell viele der Enttäuschten, die sich vom PD abgewandt haben, zurückholen, zuvorderst die Sympathisantinnen und Sympathisanten, die an der Primärwahl teilgenommen haben. Leicht wird das nicht. Hört man, dass rund eine Million Menschen zu ihrer Urwahl gegangen sind, tönt das gut. Doch muss man wissen, dass es etwa bei den Primärwahlen von 2007 drei Millionen waren.

Wird Schlein sich, wie die französische ­Linke, auf starke soziale Bewegungen ­stützen können?

In Italien gibt es die alternativen Gewerkschaften, die autonomen Sozialzentren, die Frauen- und die Klimabewegung. Aber im Unterschied zu Frankreich sehe ich derzeit keine starken Bewegungen. Nur kann es gut sein, dass sie nun im Kampf gegen Melonis Politik, der einen langen Atem braucht, wachsen und sich strukturieren.

Schlein will die sozialen Ungleichheiten bekämpfen, die Gleichstellung fördern, die wachsende Armut mit einem Grundeinkommen bekämpfen, die öffentliche Gesundheitsversorgung retten und den Klimawandel stoppen. Erwächst Meloni da eine starke, antifaschistische Konkurrentin?

Man möchte es Schlein und Italien wünschen. Ihr Programm verrät uns, wer der Elefant im Raum ist: das Kapitalismusproblem. Ohne Um- und Rückverteilung, ohne gestaltende Eingriffe in die Ökonomie und ohne radikale Demokratisierung hat diese hoffnungsvolle Vision wenig Chancen. Elly Schleins Wirtschaftsprogramm liest sich eher konventionell. Zudem will sie eine Koalition mit der Fünf-Sterne-Bewegung, die ihr die Hände binden könnte. Doch gerade bei einem grossen Teil der Jugend, die sich frustriert von der Politik abgewandt hatte, kann Schleins Wahl ein neues Engagement wecken. Hoffnung ist ein mächtiger politischer Stoff.

Stéfanie Prezioso,

54, ist Professorin für Geschichte an der Uni Lausanne und Nationalrätin der linken Genfer Koalition «Ensemble à gauche». Sie versteht sich als «Basis-Militante» sozialer Bewegungen im Bundeshaus.


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1 Kommentar

  1. Peter Bitterli

    Das ist doch ganz einfach:
    Frau Meloni ist eine starke, emanziperte Frau. Frau Schlein ist ein multifunktionales Quothildchen. Die „starke Konkurrentin“ ist linkes Wunschdenken.

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