Unia-Chefin Vania Alleva und Köbi Auer, Präsident Unia Ostschweiz-Graubünden, im Interview:

«Mehr bezahlen für weniger Leistung? So blöd kann doch niemand sein!»

Clemens Studer und Darija Knežević

Am 25. September stimmen wir über die AHV 21 ab. Die Vorlage will das Frauenrentenalter erhöhen und gleichzeitig die Mehrwertsteuer. Im Moment zeigen die Umfragen, dass der Ausgang sehr offen ist. Wie aber erleben zwei, die sich auf der Strasse und an Podien mächtig gegen die Vorlage ins Zeug legen, den Abstimmungskampf?

KÖBI AUER, Präsident Unia Ostschweiz- Graubünden und Unia-Präsidentin Vania Alleva (FOTO: YOSHIKO KUSANO)

work: Vania Alleva, Köbi Auer, Sie beide sind viel im Abstimmungskampf unterwegs. Was sind Ihre Erfahrungen?
Vania Alleva: Besonders Leute mit schmalem Budget verstehen ganz klar: Diese sogenannte Reform ist gefährlich! Sie löst keines ihrer wirklichen Probleme, vor allem nicht das der tiefen Renten. So war zum Beispiel am vergangenen Wochenende in Zürich bei einer Verteilaktion auf der Strasse die Stimmung. Viele Leute wussten schon, dass sie 2 Mal Nein stimmen werden. Ein paar wenige sagten, sie stimmten Ja. Beeindruckend war, wie viele Passantinnen und Passanten generell über die Probleme der Altersvorsorge diskutieren wollten. Oft sind es Menschen Mitte 50, die sich sorgen: «Wie soll ich bis zur AHV-Rente arbeiten, wenn ich bereits jetzt aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werde?» Mit der AHV-21-Vorlage würden nur noch mehr Menschen in die Langzeitarbeitslosigkeit gedrängt.

«Jede 9. Frau ist bei der Pensionierung auf Ergänzungsleistungen angewiesen.»

Und was erleben Sie, Köbi Auer?
Köbi Auer: Es kommt ganz darauf an, wo ich auftrete. Was mir auffällt: Gerade bei denen, die durch die teure bürgerliche Propaganda verunsichert sind, kann ich mit Fakten viel erreichen. Man muss mit den Menschen zusammensitzen, ihnen erklären, worum es wirklich geht. Und was es sie ganz persönlich kostet. Natürlich laufe auch ich hier bei hartgesottenen Rechten gegen eine Wand. Denn die sind meistens gutsituiert und können sich auch frühzeitige Pensionierungen leisten.

Gerade Männer wollen – laut Umfragen – über­proportional zustimmen. Auch Ihre Erfahrung?
Auer: Wenn ich mit älteren Männern spreche, die noch nicht in Pension sind oder kurz davor, dann frage ich immer: «Hat deine Frau gearbeitet, und hat sie genug verdient für eine Pensionskassen-Rente?» Viele sagen dann: «Meine Frau hat viel gearbeitet, aber nicht viel verdient.» Dann zeige ich ihnen, wie hoch der Rentenverlust für sie als Ehepaar wäre, sollte die Vorlage durchkommen.

Alleva: Das ist ein enorm wichtiger Punkt: Diese Vorlage will auf Kosten jeder Frau 26’000 Franken sparen, bei verheirateten Paaren sind es 24’000 Franken weniger. Statt Leistungen abzubauen, müsste man die AHV vielmehr stärken, denn die AHV bietet für die Frauen die beste und oftmals sogar einzige Absicherung. Schon heute erhalten sie im Durchschnitt einen Drittel weniger Rente.

Auer: Darum finde ich auch die Argumentation so einfältig, die Erhöhung des Frauenrentenalters sei ein Akt der Gleichberechtigung. Das ist doch scheinheilig. Der Ver­fassungsgrundsatz «Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit» wird seit Jahrzehnten nicht durchgesetzt, und die Erwerbs- und Betreuungsarbeiten sind nicht gerecht zwischen den Geschlechtern aufgeteilt. So lange ist gleiches Rentenalter nicht Gleichberechtigung, sondern eine weitere Benachteiligung der Frauen.

Alleva: Ja, Frauen erhalten immer noch fast 20 Prozent tiefere Löhne. Würde man nur den «unerklärlichen ­Anteil» der Lohndifferenz ausgleichen, macht das pro Monat 690 Franken für jede erwerbstätige Frau aus. ­Das sind minus 8300 Franken jährlich und minus 357 000 Franken bis zum Ende eines 43-jährigen Erwerbslebens. Alles vorenthaltenes Einkommen, das auch Renten bilden würde.

Auer: Schon eindrückliche – oder besser gesagt: wahnsinnige Zahlen!

Alleva: Ich hätte noch eine.

Bitte!
Alleva:
Bis heute (das Gespräch fand am 29. August statt, Anm. der Red.) haben die Männer bereits so viel Rente erhalten wie die Frauen im ganzen Jahr.

Die Befürwortenden des AHV-Abbaus argumentieren noch mit einer anderen «Gerechtigkeit»: jener zwischen den Generationen. Sie behaupten, dass die Jungen da zu kurz kämen. Ist auch das Thema bei Ihren Auftritten?
Auer:
Bei den Jungen nicht gross. Die meisten von ihnen haben Eltern oder Grosseltern im Rentenalter und sehen, wie eng viele von ihnen durchmüssen. Ich habe nicht den Eindruck, dass sich die Generationen gegen­einander ausspielen lassen. Natürlich verunsichert manchen jungen Menschen die Propaganda der AHV-Gegner mit der Überalterung. Dass immer weniger Junge für immer mehr Pensionierte aufkommen müssten. Doch wenn man ihnen das Prinzip des AHV-Umlageverfahrens gut erklärt, sehen sie ein: Wir haben jetzt zwar für ein paar Jahre ein bisschen mehr Rentnerinnen und Rentner, doch das ändert sich später wieder. Und die Jungen und Jüngeren haben höhere Löhne als ihre Eltern, so wie auch wir höhere Löhne haben als unsere Eltern. Das gibt höhere Einnahmen für die AHV. Kurz: Die AHV stirbt nicht.

Alleva: Die AHV ist seit ihrer Einführung 1948 eine einzige lange Erfolgsgeschichte. Doch die Versicherungs- und Bankenlobby redet sie immer wieder schlecht. Denn sie wollen keine starke AHV, sie machen in der 2. und 3. Säule ihr grosses Geschäft. Im Gegensatz zu den Versicherten: In den letzten Jahren zahlen wir immer mehr in die 2. Säule ein – und erhalten dafür immer weniger Rente. Demgegenüber ist die AHV sehr stabil. Und sie sorgt für sozialen Ausgleich: 92 Prozent der Versicherten erhalten mehr zurück, als sie eingezahlt haben. Nur bei den acht Prozent Topverdienenden ist es umgekehrt.

Sie haben die Altersarmut angesprochen. Um die zu lindern, gibt es ja die Ergänzungsleistungen. Genügt das denn nicht?
Auer:
Nein, denn viele beantragen keine Ergänzungsleistungen, weil sie sich schämen und meinen, das sei Bettelgeld. Dabei haben alle ein Anrecht darauf. Kommt dazu, dass die Ergänzungsleistungen auch zu niedrig sind. Und an manchen Orten ist das Beantragen der EL eine schwierige Prozedur. Sich nach einem arbeitsreichen Leben im Alter im Rentenalter finanziell «bis auf die Unterhosen» ausziehen zu müssen, das ist erniedrigend.

Alleva: Tatsache ist: Immer mehr Menschen in der Schweiz können ihren Lebensstandard nach der Pensionierung nicht halten. Vor allem die Frauenarmut ist ein grosses Problem! Ein Drittel der Frauen erhalten gar kein Pen­sionskassengeld. Und wenn doch, dann nur sehr kleine Renten. Im Verkauf und so weiter sind 500 bis 800 Franken üblich. Jede neunte Frau ist bei der Pensionierung auf Ergänzungsleistungen angewiesen. Es besteht also Handlungsbedarf. Aber nicht Sozialabbau, sondern eine Stärkung der Altersvorsorge! Deshalb haben wir Gewerkschaften die Initiative für den AHV-Dreizehnten eingereicht und jene für Zuschüsse aus den Gewinnen der Schweizerischen Nationalbank lanciert.

Auer: Es ist einfach: Wenn wir jetzt nicht 2 Mal Nein sagen, dann kommt noch mehr AHV-Abbau. Nämlich Rentenalter 67 und höher für alle. Und das, wo doch schon heute viele nicht bis zu ihrem Pensionsalter arbeiten können. Einfach verantwortungslos!

«Wenn wir jetzt nicht 2x Nein sagen, kommt das Rentenalter 67 oder höher für alle.»

Köbi Auer, Sie kennen das aus eigener Erfahrung: Ihnen wurde nach 45 Jahren beim Spinnmaschinen-Hersteller Saurer Ende Juni gekündigt. Sie sind jetzt 61 Jahre alt. Was machen Sie nun?
Auer:
Seit Juli bin ich stellenlos. In den fünf Monaten seit der Kündigung habe ich 40 Bewerbungen verschickt. Trotz gutem Lebenslauf und viel Erfahrung bekam ich bisher nur Absagen. Zu alt und gesundheitlich zu angegriffen. Und bei der einen oder anderen Firma dürfte auch eine Rolle gespielt haben, dass ich politisch und gewerkschaftlich immer sehr aktiv war und bin. Ab spätestens 60 hast du auf dem freien Arbeitsmarkt keine Chance mehr. In dem Alter kann man auch keine Umschulung mehr machen. Aber persönlich chomm i scho zgang. Vielen geht es schlechter als mir.

Alleva: Richtig, das ist ja kein Einzelschicksal, wie Statistiken zeigen: Die Zahl der 55- bis 64-Jährigen, die aufgrund von Invalidität, Krankheit oder mangelnder Per­spektive aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden, nimmt zu. Im letzten Jahr vor der Pensionierung sind nur knapp 50 Prozent von ihnen noch erwerbstätig. Frühpensionierung ist ein Luxusprivileg der Topverdiener. Leute mit kleinem Einkommen müssen sich durchquälen. Wenn man jetzt das Rentenalter erhöht, heisst dies schlicht, dass noch mehr Menschen noch länger in der Arbeitslosigkeit stecken. Wer sich früher pensionieren lässt, bezahlt nämlich mit einer massiven Rentenkürzung.

Auer: Es bleibt einem nichts anderes übrig. Wenn ich mir meine Situation konkret anschaue, heisst das: Ich stemple jetzt noch zweieinhalb Jahre. Dann bin 63,5 Jahre alt. Entweder lasse ich mich dann unfreiwillig frühpensionieren, oder ich benötige Sozialhilfe. Als Mitglied der Arboner ­Sozialbehörde sehe ich, wie viele ältere Stellenlose Hilfe brauchen. Und dann kommt natürlich die Frage: Haben Sie noch Pensionskassenkapital? Das müssen Sie beziehen, bevor Sie Sozialhilfeleistung bekommen. Und so bestraft man die Menschen doppelt.

Alleva: Dass Menschen wie du, die ein Leben lang hart gearbeitet haben, am Ende des Erwerbslebens so aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden, ist tragisch. Und der Schweiz unwürdig.

Auer: Zumal jeder meiner Kollegen bei Saurer bis 65 bleiben wollte. Keiner wollte die Firma verlassen und in diesen Strudel geraten.

Die AHV-21-Vorlage will auch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Bei früheren Vorlagen waren die Gewerkschaften für eine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Jetzt kämpfen sie für 2 Mal Nein. Warum?
Alleva:
Wenn die Erhöhung der Mehrwertsteuer hilft, Renten zu halten und Leistungen auszubauen, dann ist es eine Investition. Und das war bei früheren Vorlagen der Fall. Deshalb haben wir jeweils zugestimmt. Doch jetzt, bei der AHV 21, geht es um einen Leistungsabbau. Und dafür sollen wir erst noch mehr zahlen. Die Mehrwertsteuererhöhung bedeutet mehr Kosten für alle, auch für Rentnerinnen und Renter. Da sagen wir klar: Nein danke!

Auer: Der jetzige Moment ist auch der schlechteste aller Momente für eine Mehrwertsteuererhöhung. Wir haben seit Jahrzehnten wieder eine hohe Teuerung und müssen mit einem Prämienschock bei den Krankenkassen rechnen. Auch die hohen Benzin- und Strompreise, die steigenden Heizkosten reissen Löcher in die Haushaltskassen. Da liegt eine Erhöhung der Mehrwertsteuer völlig schief in der Landschaft.

Zum Schluss: Wenn Sie in höchstens fünf Sätzen sagen müssten, warum 2 Mal Nein am 25. September so zentral ist, wie würden sie lauten?
Alleva:
Ich sage Nein zum Sozialabbau bei der AHV, dem wichtigsten und gerechtesten Sozialwerk, das wir haben. Und Nein zu einer Verschlechterung der Altersvorsorge für die Frauen, die heute schon viel tiefere Renten erhalten. Zudem stellt die Erhöhung des Frauenrentenalters die Weichen für das Rentenalter 67 und noch höher. Und bei der BVG-Revision blockieren die Bürgerlichen im Parlament eine soziale Reform. Sagen wir also klar Nein und engagieren uns dann für die Stärkung der AHV mit den zwei Initiativprojekten der Gewerkschaften.

Auer: Mehr bezahlen für weniger Leistung? So blöd kann ja niemand sein!

AHV-Abstimmung: Warum eigentlich 2x Nein?

Die AHV-Vorlage kommt in zwei Teilen zur Abstimmung: Beim ersten geht es um die Erhöhung des Frauenrentenalters, beim zweiten um die Erhöhung der Mehrwertsteuer zugunsten der AHV.

VERKNÜPFT. Mehr Geld für die AHV tönt auf den ersten Blick gut. Allerdings ist eine höhere Mehrwertsteuer ein Unding, wenn gleichzeitig die Renten verschlechtert werden. Ausserdem liegt sie in Zeiten starter Teuerung und eines Prämienschocks bei den Krankenkassen völllig schräg in der Landschaft. Beide Vorlagen sind miteinander verknüpft; wird eine der beiden abgelehnt, scheiter die ganze Reform. Es steht also nicht zur Wahl, das höhere Frauenrentenalter abzulehnen und die Mehrwertsteuer zu erhöhen. Darum gleich 2x Nein. (cs)


Schweizweiter AktionstagVoller Einsatz für 2x Nein!

Der Aktionstag vom 27. August war mit über 100 Ständen und Aktionen im ganzen Land ein voller Erfolg. Einige Impressionen:

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