Neun Stunden volle Konzentration? Geht nicht, sagt Fabio Sulzer (33). Der Badmeister der Schaffhauser Rhybadi erzählt, warum er keinen Chef hat – und was ihn an Sonnencrème stört.
DORTHIN, WO DIE SONNE SCHEINT. Wenn die Badisaison vorbei ist, geht es für Fabio Sulzer (33) wieder auf Reisen. (Foto: Nicolas Zonvi)
In seiner Kindheit sei der Badmeister für ihn eine Autorität gewesen, sagt der gelernte Schreiner Fabio Sulzer. Es gab Regeln und Verbote. Und Schimpfis, wenn sich jemand nicht daran hielt. «Das gibt es bei uns in der Rhybadi in Schaffhausen nicht», sagt der 33jährige.
Den zweiten Sommer in Folge arbeitet er hier als Badmeister. Und setzt auf Dialog statt starre Regeln. Wenn zum Beispiel Jugendliche vom seitlichen Rand ins Becken springen wollen, erklärt er ihnen, weshalb das gefährlich sei. Und das funktioniert: «Niemand will jemand anders absichtlich gefährden.» Zu laute Musik? Oben ohne? Aufdringliches Flirten? Sulzer und seine Kolleginnen und Kollegen gehen hin und bringen ein Gespräch in Gang. «Die Leute sollen miteinander reden und eine Lösung finden. Wir vermitteln, wenn nötig. Aber Verbote stellen wir keine auf.»
SURFER. Er sei nicht Badipolizist, sondern möchte als «Surfer-Dude» rüberkommen. Damit meint er: den Menschen auf Augenhöhe begegnen und cool bleiben. Und gleichzeitig voll präsent: Wenn er auf dem Badmeister-Stuhl sitzt, lässt er die beiden Schwimmbecken, durch die das Rheinwasser strömt, nicht aus den Augen. Und hat, wie er sagt, «immer einen Katalog im Kopf, wer wo badet: fünf ältere Personen, drei Kinder, dort eine Gruppe Teenager. Wenn eine Person nicht mehr dort ist, wo ich sie zuletzt gesehen habe, schaue ich umher, bis ich sie gefunden habe.»
Das ermüdet. Spätestens nach einer Stunde lasse die Konzentration nach, sagt Sulzer. Deshalb sind zwischen 10 und 19 Uhr immer zwei Badmeisterinnen oder -meister eingeteilt. Einer beaufsichtigt die Becken, der andere versorgt das Bistro mit Getränke- oder Pommes-Nachschub, spricht mit den Badegästen, hilft bei kleinen Blessuren oder entfernt «Spriise», die es in der 152 Jahre alten Holzbadi immer wieder gibt. Oder geht selber kurz ins Wasser, um sich abzukühlen. Ja, das sei auch während der Schicht erlaubt. Auch für die, die in der Küche arbeiteten.
KEIN CHEF. Der Betrieb ist als GmbH organisiert und pachtet die Badi jeweils von Mai bis September. Einen Chef oder eine Chefin gibt es nicht. «Wir sind eine Gruppe, alle haben gleich viel zu sagen, alle sind verantwortlich.» Auch der Dienstplan entsteht im Konsens: An einem Treffen im Frühling verteilt die Gruppe alle Schichten der Saison, Tag für Tag. Die Stimmung sei hervorragend, man helfe sich gegenseitig aus, «die Badi ist im Sommer unser Wohnzimmer».
Ein Beruf ohne Schattenseiten? Das nicht, sagt Fabio Sulzer. Der Lohn, 26 Franken 70 brutto pro Stunde, sei nicht berauschend, die Arbeitstage lang: neun Stunden dauert eine Schicht. «Nach sieben Stunden fängst du an, auf die Uhr zu schauen.» Und obwohl er sehr gern draussen ist: dauernd an der prallen Sonne müsste es nicht sein. Und dieses dauernde Einschmieren, «mit allen möglichen Substanzen». Der Badmeister gesteht: «Ich finde Sonnencrème wahnsinnig unangenehm. Alles wird so glitschig!» Von der Ökologie ganz zu schweigen. Denn beim Baden gelange die Chemie unweigerlich in den Rhein. «Ich schütze mich vor Sonnenbrand und schädige gleichzeitig die Natur. Das geht mir gegen den Strich.»
Die Auswirkungen des Hitzesommers 2022 sind in der Badi überall spürbar, so Sulzer. Die grossen Becken hätten einen Naturboden, dort wachse immer ein wenig Seegras.
Normalerweise entferne dies der Badmeister oder die Badmeisterin frühmorgens. Doch dieses Jahr seien die Pflanzen gewachsen wie nie: «Wir mussten Taucher kommen lassen. Rund zehn Leute brauchten mehr als zwei Stunden, um das Gras zu mähen.» In den Kinderbecken mit Betonboden sorgten dagegen Algen für Rutschgefahr: «Wir kamen schlicht nicht mehr nach mit Putzen.»
Seegras und Algen sind das eine, Trockenheit und schmelzende Gletscher das andere. Hässig macht ihn, dass jetzt, angesichts drohender Energieknappheit, plötzlich wieder das umweltschädliche Fracking salonfähig oder die Atomenergie als nachhaltig eingestuft wird: «Die Versprechen der Mächtigen, das zu ändern, sind schon wieder vergessen!»
EXPERIMENT. Für sich hat er die Konsequenzen gezogen. Zusammen mit seiner Lebenspartnerin, auch sie arbeitet in der Rhybadi, wohnt er seit diesem Frühling in einer Schrebergarten-Hütte. Offiziell erlaubt, wie er betont. «Weniger Ressourcen verbrauchen heisst, Natur und Mensch weniger auszubeuten.» Ist der Badmeister ein Aussteiger? Nein, sagt er. Essen und Kleider müsse er weiterhin kaufen. «Der Kapitalismus holt dich wieder ein. Aber wir experimentieren mit Alternativen.»
Mitte September schliesst die Rhybadi. Wie geht es dann beruflich weiter? «Gar nicht», sagt er und lacht herzhaft. Die Arbeitsverträge laufen aus, das Paar geht auf Reisen. Wie letzten Winter. Fünf Monate haben die Gastrofrau und der Badmeister in Portugal vom Ersparten gelebt, in einem VW-Bus: «Eine schöne Erfahrung.»
Fabio Sulzer Holz, Geige, Aufstand
Badmeister ist bereits Fabio Sulzers dritter Beruf. Nach einer Schreinerlehre liess er sich zum Sozialpädagogen weiterbilden. «Beides war nicht meins», sagt er heute. Durch einen Freund erfuhr er von der Stelle in der Schaffhauser Rhybadi, bekam den Job und machte im Frühling 2021 die nötigen Lebensretterkurse. Derzeit arbeitet er zu rund 50 Prozent im Betrieb. Daneben hat er noch einen Job als Hilfsmaler. Er ist Mitglied der Unia.
COUNTRY. In der Freizeit liest Sulzer politische Literatur, jetzt gerade «Der kommende Aufstand» vom Autorenkollektiv «Comité invisible». Und er arbeitet gern mit Holz. Er restauriert Möbel, hat in Portugal einen Schopf gezimmert, auch den VW-Bus zum Reisen hat er selbst umgebaut. Kürzlich hat er sich eine Geige gekauft: «Ich möchte Countrymusik nicht nur hören, sondern gern auch selber machen. Aber da muss ich noch viel üben.»
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