Über die schrecklichen Bilder eines Krieges: Ein Essay

Unser Umgang mit dem Leid

Kathrin Gerlof

Wie sollen wir auf die Greueltaten von Butscha reagieren? Mit Rache? Mit mehr Waffen? Oder mit Ignoranz? Autorin Kathrin Gerlof über das Dilemma, in dem wir stecken.

ZERSTÖRTE STADT: Eine Strasse in Butscha. (Foto: Getty)

Im schlimmsten Fall wird Wortklauberei als Versuch gesehen, etwas Mons­tröses relativieren zu wollen. Wenn ­Bilder auf uns einstürmen (nicht umsonst nennen wir es so, denn wir fühlen uns im Sturm erobert), gelingt es nur schwer, sich im Griff zu haben. Wer angesichts von Bildern dafür plädiert, nun erst einmal innezuhalten, den ersten Impulsen nicht nachzugeben, gilt schnell als herzlos. Bilder haben die grösste Macht, in einer bereits eskalierten Situation eine Entscheidung für die weitere Eskalation zu treffen. Sie sind am besten geeignet, Empörung, Verzweiflung und den Wunsch nach Rache zu nähren. Keine noch so gute Rede schafft dies. Kein noch so ausgewogener Bericht. Seit aus der Nachrichtenwelt wesentlich eine Welt der Bilder geworden ist, ist es ungeheuer schwierig geworden, dem emotionalen Chaos zu entkommen.

Wir sind bereit, dem Hören eine Relativierung beizugeben, wenn wir vom Hörensagen sprechen. Für Bilder gibt es keine Entsprechung. Butscha macht uns wund. In der Sprache von Konventionen, also unterzeichneten Übereinkünften, mag es richtig sein, das Wort «Krieg» zu tautologisieren, indem wir ihm das «Verbrechen» zur Seite stellen. Aber jeder Krieg ist Verbrechen. Und auch wenn uns in der Vergangenheit immer wieder erzählt worden ist, dass die Segnungen moderner Technik so eine Wundertat ­wie gezielte Tötung per Drohne ermöglichen, wissen wir, dass es NICHT stimmt. Jeder verdammte Krieg, in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft, nährt sich auch vom Leben jener, die ihn nicht zu verantworten haben. Da helfen keine Konventionen. Die sind im besten Fall dafür gut, Menschen für ihre Verbrechen zur Verantwortung ziehen zu können. Da sind die Toten aber längst begraben und oft bereits zu Staub geworden. Die lange Zeit zwischen dem Verbrechen und einer möglichen Bestrafung der Verbrecher ist kaum auszuhalten. Schlimmer noch: Dieses Vorgehen verspricht in mancher Hinsicht überhaupt keine Linderung.

Wir müssen davon ausgehen, dass eine militärische Eskalation die Zahl der Toten vervielfältigen wird.

DRANG NACH RACHE

Am 6. April jährte sich zum 30. Mal der Beginn des Bosnien-Krieges. Die Jugoslawien-Prozesse haben uns gelehrt, wie mühsam es ist, Schuldige zur Verantwortung zu ziehen. Wie unbefriedigend es bleibt und wie wenig die kühle Sprache der Rechtsprechung geeignet scheint, das Leiden der Opfer zu lindern, die Trauer über die Toten zu mildern, die Wut zu beschwichtigen. Deshalb wollen wir Rache. Vor allem aber wollen wir, dass ganz schnell etwas passiert. Der weise Rat von Unbekannt, mit dem Graben aufzuhören, wenn man in einem tiefen Loch steckt, hilft da auch nicht. Der Wunsch nach Rache ist sehr wirkmächtig. Ihn als unzivilisiert abzutun wäre falsch. Denn ihn zu befriedigen ist nicht selten Bestandteil der Politik. Jedes Land, in dem die Todesstrafe gilt, bezweckt damit nicht nur, Macht über Leben und Tod zu demonstrieren, sondern auch, Rachegelüste zu befriedigen.

SCHWERE ENTSCHEIDUNGEN

Unser Dilemma besteht darin, dass wir uns dem Wunsch nach Rache nicht vollständig entziehen können, gleichzeitig aber davon ausgehen müssen, dass eine militärische Eskalation die Zahl der Toten vervielfältigen wird. Aber wenn wir nichts tun, wird es doch auch noch viel mehr Tote geben, denken wir dann. Und vielleicht lässt sich mit ganz vielen Waffen der Krieg ganz schnell beenden? Die Erfahrungen sagen zwar, dass es so nicht ist, aber möglicherweise gelingt es diesmal. Steht dem jedoch nicht entgegen, dass jeder Zivilist und jede Zivilistin, der oder die eine von uns gelieferte Waffe in die Hände nimmt, um damit zu kämpfen, nicht mehr von der Genfer Konven­tion und ihren Zusatzprotokollen geschützt ist? Ist diese Frage nicht insofern unsinnig, als wir ja die Bilder von Butscha gesehen haben? Das waren doch Zivilisten, die da ermordet auf den Strassen gelegen haben? Wissen wir noch nicht hundertprozentig sicher? Doch, wir haben die Bilder gesehen. Sollen wir jetzt echt warten, bis das irgendwann mal vollständig aufgeklärt ist? Nicht euer Ernst!

Wieder auf «Los». Mehr Waffen in die Ukraine, vielleicht sollte die Nato doch eingreifen? Das mit den Sanktio­nen dauert viel zu lange, Verhandlungen dauern viel zu lange, die Bestrafung der Verantwortlichen wird eine gefühlte Ewigkeit brauchen.

All unsere Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte über die Wirksamkeit militärischer Lösungen im Fall bereits militärisch eskalierter Konflikte helfen nicht viel. Mehr noch, sie stören unsere ersten Impulse, vergrössern möglicherweise unsere Verzweiflung und zwingen uns vielleicht, zuzugeben, dass wir gerade nicht weiterwissen. Aber wir müssen sie uns vergegenwärtigen, um nicht der verständlichen, aber gefährlichen Neigung nachzugeben, auf eine schlimme Krise mit der Verstärkung jener Strategien und Praktiken zu reagieren, die mit Ursache der Krise waren. Die nun versprochene Auf- und Hochrüstung gehört dazu.

Der Philosoph Immanuel Kant hat uns gelehrt, dass wir immer nur eine persönliche, von uns bearbeitete Version der Welt haben können und kennen. Alle Daten, die uns geliefert werden, filtern wir mit Hilfe unseres neuroanatomischen Systems. Wir können dem nur entgegensetzen, möglichst viel und mittels möglichst umfangreicher Informationen der Realität so nahe wie möglich zu kommen und dann die bestmöglichen Entscheidungen zu treffen. Butscha macht uns das unglaublich schwer. Entlässt uns aber nicht aus der Verantwortung.

Kathrin Gerlof

Die deutsche Journalistin Kathrin Gerlof (*1962) lebt und arbeitet in Berlin. Sie ist Chefredaktorin der linken Wirtschaftszeitung OXI, schreibt als freie Journalistin für verschiedene Medien und ist als Filmemacherin, Texterin und Autorin tätig.

Der hier abgedruckte Artikel erschien zuerst in der deutschen Wochen­zeitung «Der Freitag».

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