Putins Angriff auf die Ukraine:

«Ist das jetzt der 3. Weltkrieg?»

Oliver Fahrni

Der russische Herrscher Wladimir Putin führt Krieg in der Ukraine. Europa antwortet mit Sanktionen und Rüstung. Die Hintergründe einer furchterregenden Lage.

VERZWEIFELTE FLUCHT: In Lwiw (Lemberg), nahe der polnischen Grenze, harren Frauen und Kinder stundenlang aus, um sich mit dem Zug in Sicherheit zu bringen. (Foto: Getty)

Housi fragte mich dieser Tage: «Ist das jetzt der dritte Weltkrieg?» Der Mann ist Lehrer und wirkt ziemlich fertig: «Zuerst Covid und jetzt das!»

Mit seinem Angriff auf die Ukraine und der Drohung, «präventiv» Atomwaffen einzusetzen, hat der russische Präsident Wladimir Putin eine furchterregende Lage geschaffen. Zu work-Redaktionsschluss am 2. März steht eine 70 Kilometer lange russische Panzerkolonne bereit für den Sturm auf die ukrainische Hauptstadt Kiew. Bürgermeister Vitali «Dr. Stahlfaust» Klitschko, ein früherer Boxweltmeister, verspricht den Russen erbitterten Widerstand «Haus um Haus». Wie das ausgehen könnte, weiss man aus Tschetschenien. Putins Truppen legten die Hauptstadt Grosny in Schutt und Asche. Charkiw, die zweitgrösste ukrainische Stadt, brennt bereits. Hunderttausende Ukrainerinnen und Ukrainer fliehen nach Polen, Moldawien, Ungarn, Rumänien und in die Slowakei.

Was als begrenzte Militäroperation geplant war, wird zum ausgewachsenen Krieg in Europa. Putins Auftrag an seine Generäle lautete, schnell auf Kiew vorzustossen, den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski abzusetzen und ein moskaufreundliches Regime zu installieren. Es war die Kopie der US-amerikanischen Strategie «Regimewechsel», die US-Präsidenten in Lateinamerika und im Nahen Osten (etwa Irak 2003) angewandt hatten – meist mit verheerenden Folgen. Die Angriffe konzentrierten sich zuerst auf militärische Einrichtungen. Doch die Generäle hatten den Widerstand unterschätzt (angeblich kamen schon 5700 russische Soldaten zu Tode, Stand 2. 3.). Jetzt sortieren sie sich neu, fahren massiv Artillerie und Bomber auf. Werden sie nicht gestoppt, wird es höllisch.

Demonstration: Frieden jetzt!

Samstag, 5. März, um 10.30 Uhr, Besammlung auf dem Platzspitz in Zürich (gleich neben dem Hauptbahnhof).

Um 12 Uhr: Kundgebung mit Reden auf dem Sechseläutenplatz.

TOTALER KRIEG

Derweil drehen «westliche» Regierungen fast stündlich an der Sanktionsschraube. Putin, Russland, die russischen Oligarchen sollen von der Welt isoliert werden. «Schärfer als alle Bomben» sollen die Sanktionen sein, befahl US-Präsident Joe Biden.

Müssen sie wohl, denn die bisherigen Sanktionen gegen Moskau zeigten wenig Wirkung. Sie sind in Kraft, seit Russland 2014 die Halbinsel Krim annektierte. Nun erklärt Frankreichs Wirtschaftsminister Bruno Le Maire Russland «den totalen Wirtschaftskrieg».

Total? Wohl kaum, Europa hängt vorläufig noch an Russlands Gas und Kohle. Doch etliche russische Banken wurden aus dem globalen Interbanken-System Swift geworfen. Weite Lufträume sind für russische Zivilflugzeuge gesperrt. Die Zentralbank ist blockiert, ihre Auslandvermögen wurden eingefroren, der Rubel zerfällt. Sogar die Schweiz, eine zentrale Drehscheibe russischer Rohstoffgeschäfte und Fluchtver­mögen, zieht mit. Widerwillig, von der öffentlichen Meinung gedrängt. Neoliberaler Kapitalismus und Sanktionen vertragen sich schlecht. Sie schmälern die Profite. Wir stellen uns die Hektik vor, mit der am Zürcher Paradeplatz derzeit nach Möglichkeiten gesucht wird, sie zu umgehen.

Nur die Manager der Waffenschmieden können sich die Hände reiben. Flugs schaffen die USA, Deutschland und andere Nato-Länder beträchtliche Mengen Kriegsgerät in die Ukraine. Nato-Einheiten in diversen osteuropäischen Ländern werden aufgestockt. Europas Politikerinnen und Politiker aller Couleur steigern sich in kriegerisches Gerede. Olaf Scholz, der neue deutsche Bundeskanzler und Sozialdemokrat, sieht gar eine «Zeitenwende» aufziehen. Er tut selber einiges dafür.

PSYCHIATRISCHE FERNDIAGNOSEN

Überraschend verkündete Scholz die militärische Aufrüstung Deutschlands an: mit 100 Milliarden Euro. Künftig will er jedes Jahr 2 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung ins Militär stecken. Der ökologische Umbau und der Kampf gegen die wachsende Armut können warten. Was Scholz treibt, enthüllt das eigentliche Problem: Das Machtgefüge, wie es seit dem Ende der Sowjetunion und des Kalten Kriegs bestand, zerfällt. Der Sieg des kapitalistischen Systems, so hatte der US-Politologe Francis Fukuyama 1989 verkündet, sei «das Ende der Geschichte», unter der ordnenden Fuchtel der letzten Supermacht USA. Es war eine trügerische Sicherheit. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg erkennt heute eine «kritische Lage». Und wie ein Mantra wiederholen Regierungschefs den Satz des Historikers Heinrich August Winkler: «Wir erleben den gefährlichsten Moment der Geschichte seit der Kubakrise 1962.»

Dass die Welt heute auf dem Hochseil balanciert, soll allein Wladimir Putin geschuldet sein. In den Medien und auch in den Worten von immer mehr westlichen Politikerinnen und Politikern wird der Russe, der lange als skrupellos, aber kalt kalkulierend galt, nun als unberechenbarer und blutrünstiger Irrer porträtiert, der die Welt in den nuklearen Abgrund reissen könnte. Das Gewerkschaftsmagazin «Sozialismus» sagt ihm «imperialen Furor» nach. Und Putin bedient das Zerrbild gut, mit absurden Inszenierungen und brutaler Rede. Man muss nicht unbedingt dem russischen Schriftsteller Wladimir Sorokin folgen, der ein «gnadenloses, wahnhaftes Ungeheuer» erblickt, um sich zu fragen, wie es um den Kremlherrscher stehe. Wenn dieser einsam in riesigen Kreml-Räumen über den angeblichen Genozid in der Indus­trieregion Donbass faselt oder über die «Nazis» in Kiew, von denen er die Welt befreien müsse.

Der Nachteil solcher psychiatrischen Ferndiagnosen aber ist, dass sie den Konflikt eher verdunkeln als erhellen. Putin ist fraglos der Aggressor. Doch wie jeder Konflikt hat der Ukrai­ne-Krieg Ursachen und eine Vorgeschichte. Es ist wenig hilfreich, wenn jene, die danach fragen, als «Putin-Versteher» abgetan werden. Wer den Krieg stoppen will, sollte die Hintergründe kennen. Und wie oft in solchen Fällen geht es eigentlich nur scheinbar um das Objekt des Zanks, die Ukraine.

Die Manager der Waffenschmieden reiben sich die Hände.

DIE NATO EXPANDIERT

Das grosse 44-Millionen-Land am Schwarzen Meer steht heute nur darum im Zentrum des Sturms, weil es der letzte Puffer zwischen Russland und einer expansiven Nato ist. Das ist nicht veraltetes Denken aus dem Kalten Krieg, sondern ganz reale Sicherheitspolitik: Erst kürzlich, 2020, baute die Nato in Polen, den Russen quasi vor die Haustüre, eine Raketenbasis auf. Die sei nicht gegen Russland gerichtet, tönte die Nato, sondern diene dazu, iranische Langstreckenraketen abzufangen. Über diesen Witz mochte niemand lachen.
Es war nur der letzte Schritt einer langen Reihe von westlichen Offensiven, um die Handlungsfähigkeit Russlands zu kappen.

KALTE SCHULTER, HEISSER KREIG

Vor 30 Jahren, nach dem Ende der Sowjetunion, hatte Moskau dem Westen ein «gemeinsames Haus» (Michail Gorbatschow), eine kooperative Sicherheitsarchitektur für Europa, vorgeschlagen. Verschiedene US-Präsidenten, zuletzt Barack Obama, übernahmen das kluge Konzept. Zumindest verbal. Bei der deutschen Wiedervereinigung versprach die Nato, sich nicht nach Osten auszudehnen. 1999 aber integrierte sie trotzdem Polen, Tschechien und Ungarn und 2005 sieben weitere ehemalige Ostblockländer. Putin nannte das einen Verrat. Wer die Memoiren westlicher Politiker liest, etwa von Zbigniew Brzezi´nski, der mehrere US-Präsidenten in Sicherheitsfragen beraten hat, erfährt, dass Putin sogar mehrmals eine Nato-Mitgliedschaft Russlands anbot. Der Westen zeigte ihm die kalte Schulter. Russland fühlte sich herabgesetzt.

Seit einigen Jahren drängt nun auch die Ukraine in EU und Nato. Da verlor Putin, wie der britische Geopolitik-Publizist Jonathan Steele im «Guardian» notiert, «Geduld und Beherrschung». Im Winter 2021 unternahm Putin einen letzten Versuch und verlangte von der Nato den Verzicht auf ein US-Protektorat Ukraine. Erfolglos. Seither behauptet Putin, die Ukraine sei keine eigenständige Nation.

Hier findet sich die Spur, um die Eskalation der Konfrontation zu vermeiden. Russland braucht Sicherheitsgarantien. Aber wer nimmt die Spur auf? Vielleicht kann es die neue, aufstrebende Grossmacht China richten. Chinas Aussenminister Wang Yi soll zugesagt haben, im Ukraine-Krieg zu ver­mitteln.

7 Kommentare

  1. Hans Giger

    Alles was hier pro Putin so geschrieben wird, rechtfertigt noch lange nicht, einen Krieg vom Zaun zu reißen. So etwas ist einfach nur krank. Nur Macht und Geld regiert die Welt. Und das wird auch so bleiben!

  2. Marion Felix Hellmann

    Die Sicherheitsinteressen Russlands sind  im Grundsatz nicht von der Hand zu weisen. Die Nato ist seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion tatsächlich deutlich in Richtung Osten gewachsen – übrigens vollständig im Rahmen internationaler Verträge auch mit Russland. Nur: Mit der Ukraine hat das eben wenig zu tun, denn auch wenn das Land Interesse an einer Mitgliedschaft in der Nato angemeldet hat, wird eine solche Mitgliedschaft von vielen westlichen Ländern ausgeschlossen und steht überhaupt nicht auf der Tagesordnung. Für Putins Propaganda hingegen eignet sich die Lesart vom imperialistischen Westen natürlich hervorragend. Der „offensichtlich verrückte Zar“ (Nawalny) entfesselt Kriege nicht nur in der Ukraine. Als imperialistischer Kriegstreiber lies er auch im  Georgisch-Südossetischen Krieg bomben, im Tschetschenienkrieg, Dagestankrieg, Teilnahme an der Operation Active Endeavour im Mittelmeer, Militäreinsatz im Kaukasuskrieg auf der Seite südossetischer Rebellen,  Kampf gegen das Kaukasus-Emirat, das sich seit 2015 als Teil des IS versteht, 2014 Invasion und nachfolgende Annexion der Krim, Militärische Unterstützung der prorussischen Kräfte im Krieg in der Ostukraine, seit 2015: Militärischer Eingriff auf Seiten der Regierung Syriens im Syrischen Bürgerkrieg, seit 2018: Militärische Unterstützung des Kampfes gegen die libysche Regierung auf Seiten Marschall Haftars mit Wagner-Söldnern der GRU, seit 2019: Militärische Unterstützung des Kampfes gegen die Ahlu Sunnah Wa-Jama in Mosambik mit Wagner-Söldnern der GRU, seit 2020: Truppen in Bergkarabach, Aserbaidschan, 2022: Beteiligung russischer Truppen an der Niederschlagung der Unruhen in Kasachstan 2022, 2022: Überfall auf die Ukraine. Das alles kannst du auf Wikipedia nachlesen.

  3. Müller Rolf

    Die linken haben immer noch das Denken im Kopf Russland sei ein kommunistischer Staat. Das ist schon lange her, dieses Land wird einzig durch den KGB geführt mit Unterstützung von kapitalistischen Oligarchen die das Land ausbluten. Russland hätte genug Eigene Goldreserven um ein Zerfall des Rubels zu verhindern für 1 bis 2 Jahre. Nicht die Nato hat die Osterweiterung gewollt, sondern die Staaten konnten sich nur so vor Russland schützen! Wenn ich weiter so ein gelaber lesen muss bin raus aus der UNJA.

    • El Toro

      Die UNIA ist übrigens eine linke Gewerkschaft, oder hast du es bis jetzt nicht gemerkt?
      Zur Meinungsbildung gehört sich auch andere Ansichten zuzulassen und nicht einfach das Mantra der Schweizer Medienlandschaft blind glauben zu schenken.
      Zudem ist sicher auch vom Vorteil wenn einige geschichtliche Fakten dein Wissen erweitern.
      Die Russen sind nicht alleine die Bösen, es wäre zu einfach. Die EU und die NATO tragen genau so viel Verantwortung zu diesem Krieg.
      Oder denkst Du die USA würde tatenlos zulassen dass die Russen in México Raketen stationieren.

    • Stauffer Beatrice

      „Zudem ist sicher auch vom Vorteil wenn einige geschichtliche Fakten dein Wissen erweitern.“, schreibt El Toro. Das würde ich dir El Toro, allerdings raten.
      Und „Ja“ ich ging gegen den Vietnamkrieg und den Irakkrieg auf die Strasse und „JA“ ich gehe jetzt gegen den Überfall der Ukraine durch Putin und seine Schergen auf die Strasse. Dieser Überfall verschuldet einzig und allein der Kreml. Das Verständnis einiger Linken verstehe ich nicht von wegen verletztem Stolz Putins usw.
      Ihr redet langsam gleich wie die Rechten der AfD usw.

    • Beatrice Stauffer

      Nicht die Nato hat die Osterweiterung gewollt, sondern die Staaten konnten sich nur so vor Russland schützen! Das sehe ich genauso wie Rolf Müller.

      • El Toro

        An Beatrice und Rolf
        den letzten Abschnitt „Kalte Schulter, heisser Krieg“ lässt ihr gerne aus oder nein noch schlimmer, wird von euch einfach ignoriert.
        Es zeigt aber euch in einfachen Sätzen wie es zur Eskalation gekommen ist.
        Es hat nichts mit Linken oder Rechten zu tun, sondern es sind Fakten. Fakten zu ignorieren, weil sie einem nicht im Kram passen, lässt keine ausgewogene Diskussion zu.

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