Jean Ziegler ‒ la suisse existe

Immer noch und schlimmer noch

Jean Ziegler
Jean Ziegler

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Immer noch und schlimmer noch wütet das Verbrechen an den Ost- und Südgrenzen des europäischen Kontinents. Die Täter sind die nationalen Grenzschützer von Griechenland, Kroatien, Ungarn, Serbien und die internationalen Menschenjäger der EU-Grenzschutzbehörde Frontex. Bezahlt und instruiert werden sie allesamt von den Kommissarinnen und Kommissaren der EU in Brüssel. Die Opfer? Flüchtlings­familien aus dem Irak und Syrien, aus Afghani­stan, dem Südsudan, Somalia und Jemen.

«Der erste Schritt zur Sittenverderbnis ist die Verbannung der Wahr­heit.»

ERFROREN AM EVROS. Immer neue Verbrechen kommen an den Tag. Jüngstes bekannt gewordenes Beispiel: Am Morgen des 2. Februar ent­deckten Bauern auf einem Feld am Ostufer des ­türkisch-griechischen Grenzflusses Evros die halbnackten Leichen von neunzehn Flüchtlingen, darunter sechs Kindern. Sie alle trugen nur Unterwäsche, die Kleider und Schuhe waren ihnen entrissen worden.

In der bitterkalten Winternacht dieser Region waren sie erfroren. Einige Hundert Griechinnen und Griechen protestierten drei Tage später vor dem Parlament in Athen gegen den mörde­rischen Rassismus ihrer Regierung.

Flüchtlingen die Kleider wegzunehmen, bevor sie zurückgejagt werden, gehört auch zur Praxis der Schlägertruppen der kroatischen Grenzpolizei. In der libyschen Hauptstadt Tripolis herrschen Milizen. Sie pferchen die Flüchtlinge in Privat­gefängnisse. Wollen sie überleben, müssen sie die Telefonnummern ihrer Familien preisgeben. Die Folterer rufen an, und die fernen Angehörigen hören die Schreie ihrer gequälten Söhne, ihrer Töchter. Dann bezahlen sie Lösegeld auf ein libysches Konto. Die EU finanziert die libysche Küstenwache. Sie unterhält im Herzen von Tripolis eine bestens informierte eigene Vertretung.

SPRACHREGELUNG. Wie ist es möglich, dass alle diese Schrecken in eisiger Normalität und im Wissen unserer europäischen Öffentlichkeit Tag für Tag, Nacht für Nacht vor sich gehen können?

Der französische Philosoph Michel de Montaigne schrieb in seinen «Essais» (1572–1592): «Der erste Schritt zur Sittenverderbnis ist die Verbannung der Wahrheit.» – Die Kommunikationsstrategen in Brüssel sprechen stets nur von «Migranten». Das Wort «Flüchtling» kommt in ihren Verlautbarungen kaum noch vor. Migranten sind
Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen ihr Herkunftsland verlassen. Im Gegensatz zu Gewaltflüchtlingen geniessen sie nicht den Schutz der Uno-Flüchtlingskonvention von 1951.

Diese Sprachregelung der EU hat einen offensichtlichen Grund: «Illegal» passieren nur Migrantinnen und Migranten mit eindeutig wirtschaftlicher Motivation eine Grenze. Für Gewaltflüchtlinge hingegen existiert kein Delikt des illegalen Grenzübertritts. Indem jedoch die Sprecher der EU den Flüchtlingen ihre «wahre Existenz» – um mit Montaigne zu reden – absprechen, wird der Versuch, in einem fremden Land einen Asylantrag zu stellen, automatisch zum Delikt degradiert.

Delikte werden in der öffentlichen Meinung ver­urteilt. So stösst Brüssel als Konsequenz der «Verbannung der Wahrheit» mit seiner unmenschlichen Politik auf weitgehende Zustimmung.

Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Aus­schusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Im letzten Jahr erschien im Verlag C. Bertelsmann (München) sein neustes Buch: Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten.

1 Kommentar

  1. Peter Bitterli

    Ok, Hubschmid, die Begründung ist völlig wirr, aber der Schluss bezwingend: Keinen Franken für die marxistischen Organisationen Unia und VPOD. Richtig!

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