work-Frankreich-Korrespondent Oliver Fahrni über ein ziemlich verstörendes Spitalerlebnis in Marseille:

«Muss ich auch gleich selber operieren?»

Oliver Fahrni

Das passiert, wenn die ­öffentlichen Spitäler in einem neoliberalen Koma liegen.

KEIN GELD, KEIN PERSONAL: Die Zerschlagung des Service public bringen das französische Gesundheitssystem an den Rande des Kollaps. (Illustration: Ninotchka.ch)

Dieser Tage stand ein kleiner Eingriff an, im grössten Krankenhaus von Marseille. Eine Top-Adresse. Nichts Wildes ist geplant, Kardiologie, mild-invasiv. Falls dem Professor mein Herz aber nicht gefalle, so hatte mein Arzt versichert, würden sie gleich «in einem Aufwisch» weiteroperieren.

Kein Problem! Denn 13 Monate zuvor, als Covid gerade Pause machte, hatte ich mich im selben Spital einer weit schwereren Operation unterzogen. Professionelle Medizinerinnen, Mediziner und Pflegende hatten mich als mündigen Menschen behandelt. Der Anästhesist mit algerischem Namen hatte meine Sorge wegen der Narkose nach zwei schlechten Erfahrungen in Berner Spitälern gehört, er hatte mir einen «individuellen Cocktail» gemischt.

Wie er zum Schnitt ansetzt, zucke ich zusammen. «Sind Sie nicht anästhesiert?»

IM ZWEITEN SEMESTER

Marseille ist eine Stadt der Medizin. Der operierende Professor hat sich ein halbes Jahr später nach meinem Befinden erkundigt. Normal, würde er wohl sagen, das ist Service public. Kein Job, eine Ethik. Die Menschen hier sind stolz auf ihre renommierten «Medesäng». Im Juni 2020 wurde die Armenärztin Michèle ­Rubirola zur Bürgermeisterin gewählt.

Also gehe ich zuversichtlich hin, gerüstet mit dem verlangten PCR-Test («nicht älter als 48 Stunden!»). Doch der Spitalempfang ist zu. Schilder lotsen mich in die 10. Etage. Nach einer Stunde warten auf dem Korridor 14 Patientinnen und Patienten auf ihre OP. Manche schleppen Taschen mit Lebensmitteln mit. Auftritt eine Pflegende mit Klemmbrett: Sie hört schlecht. Ich brülle ihr meinen Namen und meine Gebresten ins Ohr. Die Menge nickt mitfühlend. Meinen Covid-Test will die Frau erst gar nicht sehen. Entnervt ruft ein Mann am untern Ende der Stuhlreihe: «Ist das hier Ouagadougou?». Sie gibt Unfreundliches zurück.

Später im Zimmer macht eine junge Frau mein EKG. Und? frage ich sie. «Weiss nicht», sagt sie, «ich bin im zweiten Semester.» Sie ist nett, überfordert und kommt aus der Nähe von Leipzig. Irgendwo wird wohl ein fertiger Arzt sitzen und sich die Kurven anschauen. Hoffe ich.

Inzwischen herrscht reger Verkehr im Korridor. Pflegende bewegen sich im Laufschritt. Verständigen sich lautstark per Zuruf. Der Ton ist rau. Es geht um längst überfällige Verrichtungen an einem Patienten, um fehlende Medikamente, um das Schichtende von Pflegerin X, die schon elf Stunden auf den Beinen ist. Oder um die «10-null-3, die zum fünften Mal klingelt». Ich höre, wie die Pflegenden eine weitere Protestversammlung wegen der Arbeitsbelastung vereinbaren. Ein Spital am Rande der Nervenkrise.

HELFEN WIRD ZUR HÖLLE

Den Mann, der meine Leiste rasiert, haben sie aus der Pension zurückgeholt, er wurde «vom Präfekten requiriert» wegen akuter Personalnot. An diesem Tag sind vor allem Pensionierte, Studierende und Temporäre auf Schicht. Ungeimpfte werden seit dem 15. September vom Dienst suspendiert. Ein Scheinproblem: Hier lassen sie sich an einer Hand abzählen, landesweit machen sie nur gerade ein Promille der 2,7 Millionen Beschäftigten im Gesundheitswesen aus. Doch Zehntausende sind ausgestiegen, befinden sich im Burnout oder sind krank. Mindestens 7000 sind an Covid gestorben, weil Masken und Schutzmaterial fehlten.

Andere Pflegende haben sich umgebracht. Wie Elise, Florian und Valentin, deren Fälle pu­blik wurden. Wie viele es waren, ist ein Tabu. Ihre Arbeit ist schon unter normalen Bedingungen schwer, physisch wie psychisch. Und mies bezahlt. Eine ausgebildete Pflegekraft verdient 2200 Franken monatlich. Für manchmal 100 Stunden Arbeit pro Woche. Dass sie ihre eigene Gesundheit ruinieren, nehmen sie noch hin. Aber wenn sie Notfälle abweisen müssen, was immer häufiger Realität ist, wenn einer, wie kürzlich in Paris, auf einer Bahre in einem Korridor gestorben ist, weil er dort vergessen wurde, wenn Kinder leiden, weil Medikamente fehlen, wird das Helfen und Heilen zur Hölle.

WIE, WO, WAS?

Die bittere Wahrheit dabei ist: Diese Agonie der öffentlichen Gesundheitsversorgung ist nicht dem Virus geschuldet: Covid hat nur die Verheerungen der neoliberalen Politik (siehe Kasten rechts) in ein grelles Licht getaucht. Schon 2019 warnten siebzig Klinikdirektoren in einem Aufruf: «Das öffentliche Spital stirbt.» Und während der Pandemie ging der Abbau weiter: Noch einmal 20 Prozent der Spitalbetten wurden geschlossen.

Nun reisst jemand die Zimmertür auf und schnauzt: «Noch nicht bereit?» – Wie, wo, was? – «Betadin-Dusche und blaue Schürze!» – Okay.

Im OP reden die Ärzte über eine missglückte Hochzeit, während ich festgeschnallt werde. «Warum ist die Infusion noch nicht gesetzt?» motzt der Operateur die Pflegerin an, die erfolglos in meinem linken Arm herumstochert: «Das könnten Sie auch vorher erledigen.» Er ist in Eile, das Programm ist gedrängt. Wie er zum Schnitt ansetzt, zucke ich zusammen. «Sind Sie nicht anästhesiert?» – «Nein!» – «Das hätten Sie selbst tun müssen», raunzt mich die Pflegerin an. Doch für weitere Erörterungen ist keine Zeit.

Alles bestens. Wie sich später der Infu­sionsbeutel mit meinem Blut füllt, schickt man mich nach Hause. Gerade noch rechtzeitig, bevor die fünfte Welle dem Spital endgültig den Rest geben wird.

Gesundheitsversorgung: Sorge Nummer 1

In Paris, Marseille, Brüssel, Madrid und Rom stieg am 20. November simultan die erste ­internationale Demonstration des Spital­personals gegen die Zerstörung der öffent­lichen Gesundheitsversorgung. Interessant: Ärztinnen, Klinikdirektoren, Pflegende gingen gemeinsam auf die Strasse. Die Verzweiflung und die Wut der Medizinleute wachsen. Das bewiesen die Riesendemos in 220 französischen Städten vom letzten Juni. Umfragen ­zeigen, dass der Zugang zu einer sicheren ­Gesundheitsversorgung Nummer 1 auf dem Sorgenbarometer der Menschen ist, neben der Kaufkraft.

STEUERSENKUNGEN. Die Sache ist explosiv, denn die neoliberale Zerstörung der Gesundheitsversorgung beschleunigt sich gerade ­hinter dem Paravent des Pandemie-Geredes. Die Mechanik ist überall dieselbe: Notauf­nahmen, Geburtskliniken und Regionalspitäler werden zugemacht, die Mittel der Unispitäler gekappt. Medizinische Wüsten breiten sich aus. Die Gesundheits- und Sozialbudgets werden zusammengestrichen. Damit finanzieren die Neoliberalen Steuersenkungen für die ­Reichen und die Konzerne. Doch das ist nur die halbe Strategie. Medizin ist ein Grund­bedarf und teuer. Ist das öffentliche Spital erst einmal demontiert, sprudeln hier gigan­tische Profite.


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