Lager Moria: Hunger und Tränengas nach dem Grossbrand

Inferno in der Hölle von Europa

Jonas Komposch

Trotz der katastrophalen Situation im Flüchtlingslager Moria zeigt sich der Bundesrat kaltherzig. Dabei hatte die Schweiz schon einmal 13’000 Flüchtlinge auf einen Schlag aufgenommen.

SCHLIMMES ERWACHEN: Tausende Familien leben auf Lesbos jetzt auf der Strasse, weil das Lager Moria abgebrannt ist. (Foto: Keystone)

Für work-Autor und Uno-Menschenrechts­experte Jean Ziegler ist das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Ferieninsel Lesbos ein Teil von «Europas Strategie des Terrors», des Terrors gegen Menschen auf der Flucht. Für den deutschen Entwicklungs­minister Gerd Müller (CSU) war Moria das Flüchtlingslager mit den «schlechtesten Lebensbedingungen» der Welt. Und für Unia-Frau Lena Frank war es «ganz klar ein Gefängnis», als sie es 2016 besuchte. Errichtet hatte Moria 2015 die EU als sogenannten «Erstaufnahme-Hotspot» für maximal 2800 Menschen. Doch auf Geheiss von oben pferchten die Lagerwächter ein Vielfaches in das mit Nato-Stacheldraht umzäunte Areal. Gleichzeitig ging die Bearbeitung der Asylgesuche nur schleppend voran. Und im März setzte Griechenlands Rechtsregierung unter Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis das Asylrecht sogar komplett ausser Kraft – und brach damit Völkerrecht. Daher lebten zu Spitzenzeiten an die 20’000 Menschen in den Blechhütten und Zelten von Europas grösstem Lager.

Die Folgen beschrieb Jean Ziegler nach einer Inspektion Ende Februar im work: «Die Nahrung ist ungenügend und oft ungeniessbar. Eine Schule gibt es nicht. Die hygienischen Verhältnisse sind fürchterlich: eine meist verstopfte, stinkende Toilette für 100 Personen, eine kalte Dusche für 150 Menschen.»

Tagesration für eine fünfköpfige
Familie: 3 Liter Wasser, eine Packung Nudeln und ein Brot.

IGNORIERTE HILFERUFE

Nun ist Moria abgebrannt. Die lokale Feuerwehr sagt, es war Brandstiftung. Brandstiftungen gab es in Moria schon mehrfach. Erst am 20. August legten faschistische Schlägertrupps Buschbrände in der direkten Umgebung des Lagers. Als Vertreter der deutschen Organisation «Mission Lifeline» den Angriff filmten, wurden auch sie attackiert. Das Feuer von vergangener Woche jedoch könnte auch von Internierten selbst gelegt worden sein. Grund dazu hätten sie allemal.

Seit Jahren prangern die unschuldig Eingesperrten die miserablen Zustände an. Erhört wurden ihre Hilferufe nie. Ebenso wenig die Warnungen der vor Ort tätigen Hilfsorganisationen. 2016 stellten aus diesem Grund die Ärzte ohne Grenzen (MSF) ihr Engagement vorübergehend ein. Die Hilfsorganisation teilte mit, sie werde nicht länger «Komplizin eines unmenschlichen Systems» sein. Zwei Jahre später schlug MSF erneut Alarm: Jede Woche komme es in Moria zu Selbstverstümmelungen und Suizidversuchen von verzweifelten und traumatisierten Kindern. Ausserdem grassierten Durchfallerkrankungen und Hautinfektionen.

Und dann drohte plötzlich auch noch das Coronavirus. Abermals appellierte MSF an die Vernunft und warnte vor den unkon­trollierbaren Folgen eines Virenausbruchs im überfüllten Lager. Dieses müsse sofort evakuiert und die Menschen müssten dezentral untergebracht werden, so die Organisation im März. In der Folge hagelte es von den Behörden Bussgelder und Prozessandrohungen gegen MSF. Weil ihr Isolationszen­trum für Covid-19-Verdachtsfälle aus Moria angeblich gegen die Raumplanungsvorschriften verstiess. MSF blieb nichts anderes übrig, als die inselweit einmalige Einrichtung zu schliessen. Das war im Juli, keine zwei Monate später folgte der Virenausbruch in Moria.

TRÄNENGAS STATT ESSEN

Mit dem Vollbrand hat sich die Situation zusätzlich verschlimmert. Über Nacht sind Tausende obdachlos geworden. Zwar errichteten Soldaten rasch ein neues Lager, doch hilft dieses wenig. Denn erstens hat auch das neue Lager bloss für 3000 Menschen Platz. Und zweitens wollen die Leute nicht länger in einem Freiluftgefängnis darben, zumal der Herbst hereinbricht. Völlig unzureichend ist auch die Lebensmittelversorgung. Eine Syrerin zeigte am Montag dem Westdeutschen Rundfunk, was sie als Tagesration für ihre fünfköpfige Familie erhalten hatte: drei Liter Wasser, eine Packung Nudeln und einen Laib Brot. Hilfsorganisationen, die mit privaten Essensverteilungen gegen den Hunger ankämpfen, berichten gleichzeitig von Schikanen der Polizei. Diese war bereits aufgefallen, als sie am Samstag mit Tränengas auf protestierende Flüchtlinge schoss und dabei Kinder verletzte.

BUNDESRAT BREMST

Trotz der offensichtlichen Notlage zeigt sich der Bundesrat bislang kaltherzig: Nur gerade «rund 20 Kindern» erbarmt sich das Staatssekretariat für Migration (SEM). ­Dabei erklärte allein schon die Stadt Bern, ebenso viele aufnehmen zu wollen. Und ­bereits im Juni haben die acht grössten Städte dem Bund signalisiert, mehr Flüchtlinge aus Moria empfangen zu wollen. Doch FDP-Justizministerin Karin Keller-Sutter winkte ab. Es sei unmöglich, dass Städte Personen direkt aufnehmen könnten. ­Deshalb setzen jetzt immer mehr Hilfswerke, Kirchen und Parteien die Regierung unter Druck. Platz gäbe es nämlich mehr als genug.

Viele Flüchtlingsunterkünfte sind unterbelegt. Und dies, obwohl mehrere ­Häuser jüngst geschlossen worden waren. Der Grund: Die Zahl der Asylgesuche ist auf dem tiefsten Stand seit 13 Jahren. Abwärts geht es just seit 2016. Also ausgerechnet, seitdem die Türkei EU-Milliarden zur Flüchtlingsabwehr erhält. Und seitdem das Lager Moria besteht.

Und übrigens: Die Schweiz bewies schon mehrfach, dass sie rasch Tausende Flüchtlinge aufnehmen kann, wenn sie denn will. Zum Beispiel 1956 im Zuge des ungarischen Volksaufstands gegen die kommunistische Regierung: Innert weniger Wochen hiess die Schweiz mindestens 13 000 Ungarinnen und Ungarn willkommen. Aber das war halt im Kalten Krieg und als antikommunistische Tat politisch erwünscht.


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