Hirschis gingen als Freiwillige nach Griechenland:

«Ich dachte, jemand muss jetzt einfach helfen!»

Christian Egg

Sarah ist Tierärztin und «eher links». Thomas wählt SVP und ist Landwirt. Zusammen waren sie in Lesbos, um Menschen auf der Flucht zu helfen.

SARAH HIRSCHI: Die Berner Oberländerin war fünfmal als freiwillige Flüchtlingshelferin in Griechenland. Auf dem Bild mit Kuh Häberli. (Foto: Matthias Luggen)

Sarah Hirschi nimmt einen Schluck Kaffee und erinnert sich: «Ich dachte, jemand muss doch diesen Menschen helfen!» Als das vor fünf Jahren losgegangen sei mit dem Flüchtlingsdrama, habe sie das erschüttert. Die 32jährige Tierärztin aus ­Boltigen im Berner Simmental ist Bauerntochter und politisch «eher links», wie sie sagt. Bei einem Stellenwechsel lernt sie dann Rahel Räber kennen, die Mitgründerin der Hilfsorganisation «Schwizerchrüz». Hirschi: «Da habe ich rea­lisiert, dass ich als Einzelperson etwas machen kann.»

Und sie macht. Zusammen mit ihrem Mann Thomas, 40, Landwirt, und mit weiteren Freiwilligen, die jetzt im Film «Volunteer» porträtiert werden (siehe unten). Ein paar Wochen später stehen Hirschis nachts in Lesbos am Strand. Und plötzlich, sagt Thomas, habe er ein Kind im Arm gehabt. Ein Mädchen: «Das hat niemandem gehört, gar niemandem.» Er trägt es aus einem Flüchtlingsboot. Es ist seine allererste Nacht, sein erster Einsatz als Flüchtlingshelfer.

«Wir versuchten, den Leuten Hoffnung zu geben.»

DAS MÄDCHEN

Das Mädchen klammert sich fest. Hirschi, selber Vater von zwei Töchtern, kann gar nicht anders: «Ich musste das Kind einfach halten.» Total hilflos habe er sich in dem Moment gefühlt. Ewige zwanzig Minuten lang. Hirschi: «Plötzlich kam ein Mann und hat mich angestrahlt, wir verstanden kein Wort, aber wir wussten beide Bescheid.» Aus Dank habe ihm der Vater des Mädchens die Hand geküsst: «Völlig übertrieben, aber für ihn war ich jemand, der mal hilft.»

Ein paar Nächte später entdeckt Helfer Hirschi durch den Feldstecher ein Kriegsschiff. Da wussten die Helferinnen und Helfer: Die Nato hat angefangen, die Flucht nach Lesbos zu stoppen. Spätestens dann sei ihm bewusst geworden, «welche Ziele die europäische Politik verfolgt», so Hirschi. Der Kontrast hätte nicht grösser sein können, ergänzt Sarah Hirschi: «Wir waren dort, um den Menschen zu helfen – und Europa schickt die Nato, um sie aufzuhalten.»

DIE HOFFNUNG

Fünfmal war Sarah Hirschi als Freiwillige in Griechenland, ihr Mann dreimal. Jeweils für ein bis zwei Wochen. Thomas Hirschi wählt normalerweise SVP. So wie viele in Boltigen, ganze 68 Prozent waren es bei den Nationalratswahlen 2019. Er sei jetzt nicht ein Linker geworden, sagt Helfer Hirschi. Aber die Migration sehe er seither schon anders: «Kein Mensch, kein Kind hat es verdient, so zu leben.»

Wohl ein paar Tausend Menschen hätten sie in Lesbos mit trockenen Kleidern und Nahrungsmitteln versorgt, schätzt ­Sarah Hirschi. Wahrscheinlich seien danach viele im Flüchtlingslager Moria gestrandet, das nun abgebrannt ist (siehe Seite 7). Helferin Hirschi sagt: «Wir haben versucht, den Leuten Hoffnung zu geben. Und wussten nicht, dass es eine falsche Hoffnung war.»


Jetzt im Kino: Der Dokumentarfilm «Volunteer»
Flüchtlingshelfer in Griechenland

Voller Einsatz und harte Entscheidungen: Ein neuer Film zeigt die Flüchtlingskrise aus Sicht der freiwilligen Helfenden.

Michael Räber: Mitgründer des Hilfswerks Schwizerchrüz. (Foto: Volunteer)

Ein Mann rennt einem Kiesstrand entlang. Er keucht. Das Bild wippt auf und ab, die Kamera ist an seinem Neopren­anzug befestigt. Nach fast einer Minute erreicht der Mann ein Schlauchboot, überfüllt mit vielleicht 30 Menschen.

Wir sind auf Lesbos, im Jahr 2015. Das Boot kommt von der Türkei, etwa 15 Kilometer übers Meer. Der Mann steigt ins Wasser, hilft den geflüchteten Menschen an Land, trägt Kinder ans Trockene. «Salam!» sagt er, und später: «I am Michael.»

Es ist der Berner Michael Räber, Mitgründer des Hilfswerks Schwizerchrüz. Einer von sechs Protagonisten im neuen Schweizer Dok-Film «Volunteer». Der zeigt die Realität der Flüchtlingskrise aus erster Hand. Nicht die Geflüchteten stehen im Fokus, nicht die Politik, sondern Helferinnen und Helfer. Was bewog sie dazu, ihre Ferien zu opfern oder sogar ihren Job aufzugeben und in Griechenland oder entlang der Balkanroute Menschen in Not zu helfen? Und wie gehen sie damit um, dass sie, trotz vollem Einsatz, nur einem Bruchteil der Geflüchteten helfen können?

CHAOS VERMEIDEN. Der Komiker Michael Grossenbacher, der zum Helfer wurde, sagt es so: Wenn man an einem Tag zum Beispiel nur 2000 Flaschen Wasser zu verteilen habe, müsse man das den Leuten klar sagen. «Du könntest jederzeit noch mehr helfen», etwa auch noch ein Paar Schuhe für jemanden besorgen, der sie dringend brauche. «Aber dann hast du verloren.» Die Leute fühlten sich so nämlich betrogen. Weil nicht alle Schuhe bekommen.

Michael Räber nennt die Macht der Helfenden sogar «Gewalt». Die gelte es «so verhält­nismässig und sorgfältig wie möglich» auszuüben. Solche Entscheidung zu treffen sind die meisten Schweizerinnen und Schweizer nicht gewohnt. Hier im Flüchtlingscamp seien sie aber zentral. Räber: «Hier ist es am schlimmsten, wenn niemand diese Entscheidung trifft. Dann herrscht Chaos.»

Volunteer von Anna Thommen und Lorenz Nufer läuft zurzeit in den Kinos. volunteer-film.ch


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