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Steinbildhauer Melik Scheurer: «Wir Steinbildhauer haben alle einen Knall»

Sarah Forrer

Der Friedhof in Romanshorn TG ist Melik Scheurers ganz ­persönliche Galerie: Viele Grabsteine stammen aus seinem Meissel. Als Steinbildhauer ist für Scheurer der Tod all­gegenwärtig.

HANDWERKER, KÜNSTLER, TRAUERBEGLEITER: Melik Scheurer hat als Steinbildhauer seine Berufung gefunden. (Fotos: Florian Bachmann)

Melik Scheurer lehnt an der Werkbank in seinem kleinen Atelier. Die Sonnenstrahlen suchen sich den Weg durch die verstaubten Fensterscheiben. Hell ist’s. Ruhig. Und friedlich. Eine ganz normale Werkstatt für Handwerker. Oder Künstler. Nur ein Steinblock in der Ecke lässt den Tod erahnen: Ein Grabstein. Unfertig. Unvollendet. Das nächste Werk des Steinbildhauers. Wie es rauskommen wird, weiss der 28jährige noch nicht. «Ideen brauchen manchmal Zeit», sagt er und nimmt einen Schluck aus der Wasserflasche.

Umso mehr, wenn ein ganzes Leben in einem Stein verewigt werden soll. Diesen Anspruch hat Melik Scheurer. An sich. An seine Arbeit. Tag für Tag. 20 Grabsteine meisselt er pro Jahr. Sie machen einen Grossteil seiner Arbeit aus. Für ihn eine Aufgabe, so vielschichtig wie das Leben selbst: «Jeder Mensch war anders. Ich versuche, den unterschiedlichen Charakteren gerecht zu werden – damit ein würdiges Denkmal entsteht.» Dafür spricht er ausgiebig mit den Angehörigen. Fragt sie aus, saugt die Informationen auf. War der Tote lustig? Gesellig? Oder doch eher zurück­gezogen und in sich gekehrt? Wie verbrachte er seine Freizeit? Er will sich ein möglichst genaues Bild von der Person zeichnen. Die Gespräche helfen auch den Angehörigen: «Trauerbegleitung ist ein Teil meiner Arbeit.»

IN STEIN GEMEISSELT: Der Friedhof ist für Steinbildhauer Melik Scheurer zugleich Inspiration und Ausstellungsort.

STERNENKINDER-GRAB. Der andere Teil ist die Gestaltung. Das Kreative. Den Menschen zu fassen kriegen – und ihn in Stein meisseln. Das gelingt manchmal wie von selbst. Manchmal braucht es Zeit. Und manchmal ist es fast unmöglich. Bei Kindern beispielsweise. «Da fühlt sich alles falsch an!» Ein Leben, das viel zu kurz war. Das passt nicht in einen Stein. Ein spezieller Auftrag war für ihn das Gemeinschaftsgrab für Sternenkinder auf dem katholischen Friedhof. Babies, die tot geboren wurden – oder kurz nach der Geburt starben. Das Besondere daran: «Die kleinen Menschen haben noch keine Spuren hinterlassen. Es gibt keine Erinnerungen an sie. Es ist nur die unfassbare Trauer da.»

Lange hat er nach einer passenden Form gesucht – und wurde schliesslich in der Tierwelt fündig. Die Skulptur zeigt den Kokon einer Raupe und einen noch nicht weggeflogenen Schmetterling. «Es soll das Kommen und Gehen darstellen», sagt der Thurgauer. Die Inschrift: «Es ist das Ende, sagt die Raupe, es ist der Anfang, sagt der Schmetterling.» Das Grab gefällt ihm. Und auch der Sinn dahinter. Die betroffenen Eltern können sich beim Denkmal treffen. Sich austauschen. Und sich gegenseitig bei der Verarbeitung der Trauer unterstützen. «Das finde ich einen schönen Gedanken.»

Es ist eines seiner Werke, die auf dem Friedhof in Romanshorn stehen: «Der Friedhof ist fast so etwas wie eine öffentliche Galerie meiner Arbeiten.» Oft fallen ihm beim Schlendern wieder die Geschichten hinter den Steinen ein. Von der Person. Aber auch von sich selbst. Er erinnert sich, in welcher Lebensphase er damals steckte, was er dachte und wie es ihm ging. «Es ist eine andere Art von Tagebuch.» Und natürlich auch Quelle der Inspiration: Was haben andere Bildhauer hergestellt? Mit welchen Materialien arbeiten sie? Welche Muster wählen sie? «Jeder hat seine eigene Handschrift.»

Doch wie ist Melik Scheurer selbst auf so ein altes Handwerk gestossen? «Durch Zufall», sagt er lachend. Eigentlich wollte er Biobauer werden. Später Architekt. Dafür waren aber die Schulnoten zu schlecht. Er besuchte in St. Gallen den künstlerischen Vorkurs. Ein Glücksfall: Ein Lehrer war Steinbildhauer. Durch ihn fand er zum Beruf – und zu einer Lehrstelle in Romanshorn. Nach der dreijährigen Ausbildung zog er als Geselle in die Welt (siehe Text rechts). Kaum zurück, übernahm er das Atelier von seinem Lehrmeister. «Er suchte einen Nachfolger. Ich einen Job. Wir verstanden uns schon während der Lehre gut. Das passte!»

STÄNDIGER BEGLEITER. Seit drei Jahren ist er nun selbständig. Fängt jeden Morgen um sieben Uhr an. Länger kann er nicht liegen bleiben – auch wenn er könnte. Das schlechte Gewissen treibt ihn aus dem Bett. «Eigentlich bin ich ja niemandem Rechenschaft schuldig. Dennoch habe ich einen inneren Polizisten. Der wacht über meine Stunden. Und Faulheit akzeptiert er nicht!» An diesen Moralapostel hat er sich mittlerweile gewöhnt. Wie auch an den anderen Begleiter: den Tod. «Er ist immer präsent, hat aber seinen Schrecken verloren.» Mehr noch: Er verändere die Sicht auf das Leben – und zwar durchaus auch positiv. Man lebe bewusster, intensiver, geniesse wohl auch mehr den Moment. Das spürt er auch bei Berufskollegen. «Vielleicht ist das der Grund, warum alle Bildhauer einen Knall haben!» sagt Melik Scheurer und lacht herzhaft.


Melik Scheurer Auf der Walz

In Schlaghosen, weissem Hemd und schwarzem Hut zog Melik Scheurer 2012 los. Auf die Walz. In die weite Welt. Mit leeren Taschen, voller Vorfreude. Und strengen Gesellen­regeln im Kopf: «Handys sind verboten. Bereichern darf man sich nicht. Und Benimmregeln gibt es auch.»

BUNTER HUND. Das Gesellenleben trieb ihn nach Deutschland, dann nach Norwegen, später nach Sri Lanka und Neuseeland. Oft stiess er auf offene Türen. Doch nicht überall ist die Tradition so bekannt wie hier. «In Neuseeland hielt man uns für Fans von ‹Herr der Ringe›. In Sri Lanka waren wir wie bunte Hunde. Da wusste niemand etwas von Gesellen.» Vier Jahre war er unterwegs. Dann kam er wieder nach Hause. Mit einem offenen Geist, vielen neuen Freunden und Erinnerungen, die zwar nicht auf dem Friedhof in Romanshorn verewigt sind – dafür aber in seinem Kopf.

Während seiner Zeit als Geselle war Melik Scheurer Unia-Mitglied. Der Mindestlohn eines Bildhauers liegt bei 27 Franken pro Stunde.

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