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Der Feminismus der 99 Prozent

Oliver Fahrni

Aus einem neuen, sozialen und ökologischen Feminismus soll die Renaissance der Linken wachsen.

FEMINISTISCHE REVOLUTION: «Das Patriarchat macht uns Brechreiz.» Demo am 8. März in Madrid, Spanien. (Foto: Alamy)

Die lila Welle rollte an, und dann brachten der erfolgreiche Frauenstreik und die eidgenössischen Wahlen von Oktober 2019 den Beweis: In die Gleichstellung von Frau und Mann ist neue Dynamik gekommen.

Gleichstellung ist, das wird immer klarer, keine Frauenfrage, sondern die Antwort auf das Problem, ob wir unsere Gesellschaft entlang von Geschlechtergrenzen organisieren wollen (die immer fliessender werden).

Wie aber steht diese Gleichstellung zur sozialen Krise, zur wachsenden Ungleichheit von Vermögen und Einkommen, zum neuen Nationalismus und zum Klimakollaps?

Ein Teil der Feministinnen hält es mit der These, die Facebook-Managerin Sheryl Sandberg Anfang 2018 so formulierte: «Wir wären in einer weitaus besseren Lage, wenn die Hälfte aller Länder und Konzerne von Frauen, die Hälfte aller Haushalte von Männern geführt würden.» Mit «wir» meint sie nicht die Frauen, sondern den Zustand der Welt. Sandberg, die zuvor als Stabs­chefin von US-Finanzminister Larry Summers die Finanzmärkte entfesselt hatte, fordert die Frauen auf, in den Konzernen und in der Politik aufzusteigen. Das sei der «Königsweg». «Lean in», «Kniet euch rein», titelte sie ihr Buch.

«Manche begreifen den Feminismus als Magd des Kapitalismus.»

RADIKAL VERSCHIEDEN

Kurz nach Erscheinen von «Lean in» lähmte ein militanter Frauenstreik Spanien. Auf der ganzen Welt gingen am 8. März Millionen Frauen auf die Strasse. Die Spanierinnen schrieben: «Wir wollen eine Gesellschaft ohne sexistische Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt […] Wir stehen für die Rebellion gegen jenes Bündnis von Patriarchat und Kapitalismus, das uns gehorsam, fügsam und still sehen will.» In diesen gegensätzlichen Stimmen, dort Sandberg, hier Spaniens Frauenstreikende, erkennt Nancy Fraser, die bekannte US-Feministin, Philosophin und Sozialwissenschafterin, die zwei radikal verschiedenen Wege des Feminismus. Mit ihren Mitstreiterinnen, der italienischen Philosophieprofessorin Cinzia Arruzza und der ­indischen Historikerin Tithi Bhattacharya, kontert sie die Facebook-Managerin scharf: «Sandberg und ihresgleichen begreifen den Feminismus als Magd des Kapitalismus.»

Der gängige neoliberale Feminismus, schreiben die drei Autorinnen in ihrem Buch «Feminismus für die 99 Prozent», sei «die erstaunliche Vision einer auf Chancengleichheit beruhenden Herrschaft, die gewöhnliche Menschen im Namen des Feminismus aufruft, sich dankbar zu zeigen dafür, dass eine Frau und kein Mann ihre Gewerkschaft zerschlägt, einer Drohne den Befehl erteilt, die Mutter oder den Vater zu töten, oder das Kind an der Grenze in einen Käfig sperrt.»

NANCY FRASER. (Foto: Keystone)

ZURÜCKSCHLAGEN

In elf leichtverständlich geschriebenen Thesen entfalten Fraser, Arruzza und Bhattacharya eine «antikapitalistische Vorstellung von Geschlechtergerechtigkeit, die über die aktuelle Krise hinaus- und in eine neue Gesellschaft führt».

Ihr Manifest in einem Satz verdichtet: Unter den bestehenden Verhältnissen kann es keine echte Gleichstellung geben. Sich «reinknien»? «Nein, zurückschlagen!» Denn der Kapitalismus ist nicht nur ein Wirtschafts-, sondern ein Gesellschaftssystem. Nancy Fraser sagt: «Der Feminismus kann nicht das Ziel haben, privilegierten Frauen die gleichen Rechte wie den Männern ihrer Klasse zu sichern.»

In einem Aufsatz mit dem provokativen Titel «Für eine neue Linke. Das Ende des progressiven Neoliberalismus» hatte Fraser schon Ende 2016 den Wahlsieg Donald Trumps und die unerwartete Niederlage von Hillary Clinton analysiert. Viele US-Wählerinnen hatten Clinton ihre Stimme versagt. Nicht ohne Grund: Sie verkörpere die wachsende Kluft zwischen der Besetzung hoher Ämter durch Frauen aus der Elite und der Verschlechterung der Lebensumstände der Mehrheit, schrieb die Philosophin. Die Linke habe sich mit Geschlechter- und Minderheitenpolitik in die Ecke manövriert.

Doch im neuen, sozialen und ökologischen Feminismus sieht Fraser eine wesentliche Triebkraft für die Renaissance einer starken Linken. Migration, Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, Ökologie: alles feministische Themen.

Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya, Nancy Fraser: Feminismus für die 99 Prozent.
Ein Manifest. Mathes & Seitz, Berlin 2019. E-Book CHF 12.–, Buch CHF 19.90

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