Erfolgreich gegen die Sparwut aus Brüssel

Das portugiesische Wirtschaftswunder

Ralph Hug

Portugal boomt. Dank einer Linksregierung, die auf soziale Reformen setzt und nicht auf neoliberale Rezepte.

ATTRAKTIV: Flaniermeile in Lissabon. Viele ausgewanderte Portugiesinnen und Portugiesen kehren in ihr Land zurück. (Foto: Getty)

So darf es nicht weitergehen! Das dachte João Semedo im Oktober 2015. Der Co-Leader des «Bloco de Esquerda» (Linksblock) hatte eben in den Wahlen reüssiert. Zehn Prozent für seine linke Gruppierung, die es noch gar nicht lange gab – das war schon eine Sensation. Vor allem im Zweiparteienstaat Portugal, wo sich bisher nur Sozialdemokratie und Konservative an der Regierung abgelöst hatten. Plötzlich hatte Semedo eine Idee: Was wäre, wenn ein starker Linksblock eine sozialdemokratische Minderheitsregierung stützen und zu sozialen Reformen antreiben würde?

Semedos Kalkül: das Spardiktat aus Brüssel aushebeln. Denn seit 2011 hing Portugal am Kredittropf der Troika, bestehend aus EU, Europäischer Zentralbank (EZB) und Währungsfonds (IWF) – und ihren neolibe­ralen Rezepten. Wie schon Griechenland drohte auch Portugal auszubluten: durch Sozialabbau, Lohn- und Rentenkürzungen, Privatisierungen und Zerschlagung der öffentlichen Dienste. Und siehe da: Semedos Rechnung ging auf.

Seit vier Jahren regieren die portugiesischen Sozialdemokraten nur dank der Unterstützung im Parlament durch den «Bloco de Esquerda» und die Kommunisten. Premier António Costa war früher Bürgermeister von Lissabon und ist der erste nichtweisse Regierungschef Europas (er stammt aus Goa in Indien). Die rechten Gegner gaben dieser brüchigen Allianz keine Chance. Sie verhöhnten sie als «geringonça» (Klapperkiste). Doch die Klapperkiste erweist sich als veritabler VW, er läuft und läuft und läuft. Costas Sozialistische Partei liegt in Umfragen bei sagenhaften 40 Prozent. Ein Unikum in einem Europa, in dem die Sozialdemokratie rundherum zerfällt.

Das einst ärmste Land Europas
floriert.

PRIVATISIERUNGS-STOP

Die Portugiesinnen und Portugiesen schätzen die ausgesprochen antineoliberale Politik: Costa stoppte die Privatisierungen bei Wasser, Bahn und Strassen, verbesserte die Renten, hob den Mindestlohn von 505 auf 557 Euro an, nahm Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst zurück, erhöhte die Vermögenssteuer, führte eine neue Steuer auf Grossgrundbesitz ein und senkte die Mehrwertsteuer im wichtigen Tourismussektor von 23 auf 13 Prozent. In den Augen von Sparwütigen lauter Todsünden, aber für Portugal genau das richtige Rezept. Denn es schafft Kaufkraft für die breite Bevölkerung – und damit Aufschwung. Die Arbeitslosigkeit ging von über 12 auf 6,7 Prozent zurück, das Haushaltsdefizit sank auf 2 Prozent, und teure IWF-Kredite konnte die Regierung vorzeitig zurückzahlen. Die Wirtschaftsmedien sprechen von einem «portugiesischen Wunder». Aber da waren keine höheren Mächte im Spiel, sondern wirtschaftspolitische Vernunft.

Der Boom im einst ärmsten Land Europas hat Folgen. Portugal verlor in der Krise eine halbe Million vorwiegend junge, gut ausgebildete Menschen. Sie zogen weg, um Arbeit zu finden, sehen aber heute wieder Chancen und kehren zurück. Rentnerinnen und Rentner im Ausland versucht die Regierung mit einem spürbaren Steuererlass zurückzulocken. Sie sollen ihr Häuschen daheim bauen und ihre AHV dort ausgeben. Inzwischen wandern mehr Portugiesinnen und Portugiesen aus der Schweiz aus als ein. Auch Flüchtlinge sind willkommen. Portugal war bereit, bis zu zehntausend von Griechenland und Italien aufzunehmen.

Das portugiesische Wirtschaftswunder hat aber auch seinen Preis: Tieflöhne und prekäre Jobs sind noch weit verbreitet, das Geld für dringend nötige Investitionen fehlt im Staatshaushalt. Schlecht ist die Lage insbesondere im Gesundheitswesen. Auf Druck aus Brüssel kürzte Costa die Ausgaben trotzdem. Linke machen ihm nun den Vorwurf, er habe den Sparkurs gar nicht wirklich beendet. Trotzdem hält ihn der Linksblock an der Macht. Auch wenn es ­unter der Oberfläche brodelt (siehe Kasten rechts).

MARTINS‘ SCHARFE KRITIK

Costas schärfste Kritikerin heisst Catarina Martins (46). Die Chefin des Linksblocks stammt aus Porto und war eine Mitstreiterin des inzwischen an Krebs verstorbenen João Semedo. Sie sagt: «Diese Regierung ist keine Linksregierung.» Doch immerhin habe man mit dem Kurswechsel bewiesen, dass die Behauptung, es gebe keine Alternative zur Sparpolitik, eine grosse Lüge sei. Martins fordert mehr Einkommen für die arbeitende Bevölkerung und insbesondere einen Erlass der hohen Staatsschulden. Für die Zinsen muss Portugal derzeit mehr Geld aufwenden als für das ganze Schulsystem. Das ist die grösste Hypothek für die Zukunft des Landes.

Boom und Streiks: Es brodelt unter der Oberfläche

Trotz Linkspolitik und Wirtschaftsboom häufen sich in Portugal Streiks und Proteste. Mitte April gingen Tausende in Lissabon gegen eine Reform des Arbeitsgesetzes auf die Strasse. Diese ermöglicht weiterhin Tieflöhne. Im Februar streikten die Krankenpfleger und Krankenpflegerinnen für bessere Löhne. Sie taten dies sogar in den Operationssälen.

NEUE BEWEGUNG. Für grösstes Aufsehen sorgten die Docker in der Stadt Setúbal. Viele von ihnen mussten als Tagelöhner arbeiten. Das änderte sich nach einem fünfwöchigen Streik: Im Dezember 2018 erreichten sie feste Arbeitsverträge und bessere Arbeitsbedingungen. Die Regierung hatte sogar die Polizei auffahren lassen, um die Beladung eines Schiffs des Auto­konzerns VW sicherzustellen. Ein portugiesisches Phänomen sind die neu gegründeten Gewerkschaften wie Sindepor in den Spitälern. Sie finanzieren ihre Aktionen über Crowdfunding und grenzen sich von den beiden grossen Gewerkschafts­verbänden CGTP und UGT ab. Diese seien zu stark mit der sozial­demokratischen Regierung oder mit den sie stützenden Kommunisten verbandelt, so der Vorwurf.

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