Saisonarbeiterin Ineta Jelic (47) hat gut lachen: «Ich bin immer da, wo es schön ist!»

Moderne Nomadin

Sabine Reber

Viele in der Gastro­branche leiden unter prekären Arbeits­bedingungen. Ineta Jelic nimmt sie in Kauf. Aber ausnützen lässt sie sich nicht.

TINGELINGELING: Ineta Jelic, hier flankiert von Mirabelle (links), Kiwi (rechts) und Nemo (liegend), arbeitet immer dort, wo andere gerade Ferien machen. (Foto: Stöh Grünig)

Seit 16 Jahren lebt Ineta Jelic im VW-Bus, zieht mit ihren Hunden Mirabelle, Kiwi und Nemo von Saison zu Saison durch Europa. work trifft sie im Berner Oberland vor dem Chalet von Hans Gfeller, einem pensionierten Elektriker und «alten» Gewerkschafter. Er hat extra die Büsche ­zurückgeschnitten, damit Jelics VW-Bus vor dem Haus Platz hat. Die Frau mit dem flammenden Haar kocht Kaffee, und Hans holt derweil die ­goldene Uhr hervor, die ihm der Smuv zur 40jährigen Mitgliedschaft geschenkt hat. Von der anderen Strassenseite tönen fröhliche Kinder­stimmen herüber. Dort liegt das Schwimmbad von Saanen, wo Jelic gerade die Sommersaison beendet. «Ein super Job», findet sie, «hierhin komme ich immer gerne zurück! Die Leute sind freundlich, die Stimmung ist gut. Bei schönem Wetter arbeiten wir einfach, solange es zu tun gibt, das ist selbstverständlich bei solchen Jobs. Dafür können wir bei schlechtem Wetter auch mal ausruhen.»

AUFBRUCH

Auch wenn die Arbeitstage lang sind, die Pausen für die Hunde müssen sein: füttern, Gassi gehen, das ist ­Ineta Jelic heilig. Und sie bestehe jeweils darauf, dass sie mindestens 10 Stunden Ruhepause am Stück habe. Laut Landesgesamtarbeitsvertrag (L-GAV) müssten es jeweils 11 Stunden sein (siehe Box). Jelic sagt: «Insgesamt arbeite ich sicher mehr als der Durchschnitt. Dafür brauche ich meine Hundepausen sowie einen Standplatz und Strom für den Camper. Wenn ich das bekomme, ist es ein Gewinn für beide Seiten.»

Und wie wird man zur modernen Nomadin? Jelic ist in der Nähe von Stuttgart als Tochter einer Deutschen und eines Kroaten aufgewachsen, hat eine naturwissenschaftliche Matura und ist ausgebildete Krankenpflegerin. Sie arbeitete in der Palliativpflege. In der Freizeit hatte sie noch zwei Nebenjobs, als Pizzakurierin und in der Marktforschung: «Ich habe jeden Rappen gespart, um zu reisen, in Westafrika und in Südamerika und quer durch Europa», sagt sie. Aber auf die Dauer hatte sie das Gefühl, sich mit so viel Arbeit kaputtzumachen und doch immer zu ­wenig Zeit für ihren Traum zu haben. Sie überlegte: «Nie hat jemand von meinen Patienten bedauert, etwas gewagt zu haben. Die Sterbenden haben immer nur das bereut, was sie nicht gemacht haben.»

Bei allem Nomadentum: über den Tisch ziehen lässt sich Jelic nicht.

BERGE, SEEN, MEER

2003 nahm Jelic all ihren Mut zusammen und machte sich auf den Weg. Sie kündigte die Wohnung, verkaufte und verschenkte ihre Habseligkeiten, beendete ihre langjährige Beziehung. Dann kaufte sie einen gebrauchten Camper und suchte sich im Tierheim einen Hund als Weggefährten.

Sie nahm sich vor, im ersten Jahr ganz langsam und gemütlich, ohne Plan und Zeitdruck, bis nach Südspanien zu reisen. Doch es kam anders: «Ich habe mich im Jura verfahren. Und dann bin ich per Zufall am Bielersee gelandet.» Das Wetter war prächtig, der See glitzerte, und Jelic sagte zu sich: «Was willst du in Südspanien, wenn es hier so schön ist!» Sie fand einen Job als Pflegerin in einem Berner Spital, blieb einige Monate. Sobald sie genug Geld hatte, reiste sie weiter. Sie begann, Saisonjobs im Gastgewerbe anzunehmen, mal in einer Alphütte, mal auf einem Zelt- oder Campingplatz, mal in einer Jugendherberge oder, wie in diesem Sommer, in einer Badi. Die Winter verbrachte sie auf Campingplätzen im Süden oder in Skigebieten: «Berge, Seen, Meer, ich bin einfach immer dort, wo es schön ist!» Sosehr sie ihr Nomadenleben liebt, organisatorisch sei es durchaus anspruchsvoll. Immer wieder eine Stelle zu finden ist auf Dauer nur möglich, weil sie ein gutes Netzwerk an Kontakten pflegt: «Wenn ich im Sommer auf einer griechischen Insel arbeite und mich für einen Winterjob in den Bergen in der Schweiz bewerbe, kann ich ja nicht vorbeigehen. Da braucht es Vertrauen.» Das Beste sei immer, von Kolleginnen und Kollegen empfohlen zu werden.

AUFLEHNUNG

So kam sie im Mai 2016 auch auf den Creux du Van im Neuenburger Jura, um in der Herberge Le Soliat zu arbeiten. Doch es wurde eine böse Überraschung. Jelic erinnert sich: «Der Chef hatte Leute aus Südamerika rekrutiert. Die arbeiteten 16 und mehr Stunden am Stück, im Akkord, und haben sich dann noch beim Chef ­entschuldigt, dass sie nicht noch mehr leisten können. Manchmal sind sie vor lauter Erschöpfung ins Freie getorkelt.»

Ineta Jelic war schockiert über diese Zustände und ging zur Unia. Nach mehreren Protestaktionen und Verhandlungen kam es diesen Sommer zu einer Schlichtung. Jelic bekam 5000 Franken als Abfindung. Denn bei allem Nomadentum, Flexibilität und selbstgewählten unsicheren Saisonjobs: über den Tisch ziehen lässt sich Jelic nicht. Von keinem ­Arbeitgeber.

Klare Regeln: Gastro-GAV und Arbeitsgesetz

Das Arbeitsgesetz schreibt für alle in der Schweiz Beschäftigten eine tägliche Ruhezeit von mindestens 11 aufeinanderfolgenden Stunden fest. Die Ruhezeit kann unter bestimmten Bedingungen und maximal einmal pro Woche auf 8 Stunden ­herabgesetzt werden. Ausserdem besteht im Gastgewerbe mit dem Landesgesamtarbeitsvertrag (L-GAV) der grösste allgemeinverbindlich erklärte Branchenvertrag der Schweiz. Dieser findet auch für Camping- und Zeltplätze, Alphütten, Jugend­herbergen und Badis grundsätzlich ­Anwendung, sofern sie auch gast­gewerbliche Leistungen anbieten – was fast immer der Fall ist.

REGELN MISSACHTET. Mauro ­Moretto, Branchenverantwortlicher Gastgewerbe bei der Unia: «Eigentlich ist in diesen Bereichen alles klar geregelt. Aber zu viele Betriebe halten sich noch nicht daran. Gerade bei schönem Wetter werden die maximalen Arbeitszeiten in diesen Freizeit- und Tourismusbereichen oft überschritten. Aber mit genug Personal und entsprechender Organisa­tion ist es auch für diese Betriebe möglich, das Gesetz einzuhalten.»

HEIMGESCHICKT. Ein weiteres Pro­blem ist die Überwälzung des Unternehmerrisikos auf die Arbeitnehmenden. Moretto: «Da werden schnell mal ein paar Leute früher heimgeschickt, wenn das Wetter schlecht ist. Oder in einer nicht so guten Saison heisst es plötzlich, nächste Woche musst du nicht mehr kommen. Aber das geht natürlich nicht so einfach, denn Verträge ­müssen eingehalten werden.»

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