Wer wenig verdient, wird von der Invalidenversicherung bestraft

IV lässt Coiffeuse Beatrice Zbinden darben

Christian Egg

Wäre Beatrice Zbinden früher Pilotin gewesen, bekäme sie jetzt von der IV eine anständige Rente. Doch Zbinden war Coiffeuse und erhält nur 401 Franken pro Monat. Zynisch, aber rechtens.

DOPPELTE BÜRDE: Beatrice Zbinden muss mit den Folgen ihrer Krankheit klarkommen und mit der mickrigen IV-Rente. (Foto: Yoshiko Kusano)

Acht Zentimeter gross war der Tumor, den die Ärzte im Kopf von Beatrice Zbinden feststellten. Das war vor vier Jahren. Die Dia­gnose und die anschliessende Operation veränderten das Leben der heute 55jährigen aus Niederscherli im Kanton Bern total. Sie sagt: «Ich kann mich nicht mehr lange konzentrieren, etwa bei Schreibarbeiten oder auch in Gesprächen.» Zudem verträgt Zbinden kein helles Licht und keinen Lärm mehr: «Bei Sonnenschein gehe ich lieber nicht aus dem Haus.» Schlimm sei auch Zugfahren: Der Geräuschpegel und die vielen Leute machten sie nervös und unsicher. Das halte sie fast nicht aus.

Ihren Beruf als selbständige Coiffeuse kann Zbinden nicht mehr ausüben. Das stellten auch die Ärztinnen und Ärzte der IV fest. Nur noch eine «gut überschaubare ­Tätigkeit ohne höhere Anforderungen» komme in Frage und nur, wenn sie zwischendurch Ruhepausen einlegen könne. Befanden sie. Und auch dann höchstens vier Stunden am Tag. Gehen wir von einer 42-Stunden-Woche aus, ist Beatrice Zbinden also etwas weniger als 50 Prozent arbeitsfähig. Trotzdem bekommt sie von der IV nur eine Viertelsrente. Exakt 401 Franken pro Monat. Wie kann das sein?

NUR VIERTELSRENTE

Es hat mit der Berechnungsmethode der IV zu tun. Denn der «Invaliditätsgrad», der für die Rente entscheidend ist, entspricht nicht der medizinisch festgestellten Arbeitsunfähigkeit. Die IV stellt jeweils einen Einkommensvergleich an. Und geht bei Zbinden ­davon aus, dass die Frau trotz ihrer Behinderung noch 22’000 Franken im Jahr verdienen könnte. Das Pro­blem: Vor dem Hirntumor hat die Coiffeuse nur gerade 37’000 Franken pro Jahr verdient. Der Unterschied von vorher zu jetzt, eben der Invaliditätsgrad, beträgt nur 41 Prozent. Und die berechtigen nur zu einer Viertelsrente.

«Das ist ein Fehler im System.»

STRAFE FÜR TIEFEN LOHN

Peter Kaufmann ist der Anwalt von Beatrice Zbinden. Er kritisiert, dass seine Klientin von der IV dafür bestraft werde, dass sie vor der Invalidität schlecht verdient habe. Kaufmann: «Hätte sie vorher besser verdient, bekäme sie jetzt eine Dreiviertelsrente.» Trotzdem kann sich Zbinden nicht gegen ihre Tiefrente wehren. Denn das Vorgehen der IV entspricht dem Gesetz (siehe unten).

Doch wie begründet die IV die Annahme, Zbinden könnte heute immer noch 22 000 Franken verdienen? Sie stützt sich auf den Durchschnittslohn des Bundesamts für Statistik. Der beträgt für eine Frau und für «einfache Tätigkeiten» rund 4500 Franken im Monat für eine Vollzeitstelle. Auch dieser Vergleich ist rechtens, geht aber völlig an der Realität vorbei, wie Anwalt Kaufmann kritisiert: «Laut der IV müsste Frau Zbinden mit ihrer Behinderung also eine viel besser bezahlte Stelle finden, als sie vorher hatte.» Und die IV sagt ihr nicht, wo sie eine solche Stelle finden könnte. Weil es solche Stellen für Behinderte gar nicht gibt. Das ist mehr als zynisch.

KEIN EINZELFALL

Fälle wie der von Coiffeuse Beatrice Zbinden kämen immer wieder vor, sagen Jurist Kaufmann und auch andere Fachleute, mit ­denen work gesprochen hat. Beim Basler Anwalt Nikolaus Tamm sind gar 80 bis 90 Prozent seiner IV-Klientel Schlechtverdienende, die durch diese IV-Methode benachteiligt werden. Er meint: «Dagegen bekommt ein Kaderangestellter, der vorher 180’000 Franken verdient hat und jetzt mit einer Behinderung noch 50’000 Franken verdienen kann, eine volle IV-Rente.» Tamms Fazit ist klar: «Das ist ein Fehler im System.»


Politisch gewollt Tiefe IV-Rente für Schlechtverdienende

Nationalrätin Silvia Schenker: «Es ist krass ungerecht» (Foto: Keystone)

Nationalrätin Silvia Schenker sagt: «Es ist eine krasse Ungerechtigkeit, wie die IV Menschen mit tiefem Einkommen benachteiligt.» Die Basler SP-Sozialpolitikerin reichte dazu vor vier Jahren ein Postulat ein. Ihre Forderung war moderat: In einem Bericht hätte der Bundesrat Vorschläge und Ideen entwickeln sollen, um das System für die Berechnung des Invaliditätsgrades zu verbessern. Doch der Bundesrat und die bürgerliche Mehrheit im Nationalrat schmetterten den Vorstoss ab. Die Folge: Das Problem besteht weiter, wie der Fall von Beatrice Zbinden zeigt (siehe oben). Verantwortlich für die IV ist das Bundesamt für Sozialversicherungen. Das Amt schreibt work: «Wie der IV-Grad festgelegt wird, hat der Gesetzgeber festgehalten.»

UNBEGREIFLICH. Dass Menschen mit tiefem Einkommen wie Zbinden nur geringe Renten bekommen, erklärt das Amt so: «Die Invalidität ist als wirtschaftliche, nicht als medizinische Grösse definiert.» Und dass man auf die Durchschnittslöhne der Statistik abstelle, entspreche der Praxis des Bundesgerichts. «Unbegreiflich» findet das Nationalrätin Schenker: Derzeit behandelt die Sozialkommission des Nationalrats eine Revision der IV. Für Schenker ist klar: «Solange sich die Art der Berechnung nicht ändert, ist es für viele Schlechterverdienende aussichtslos, eine anständige IV-Rente zu bekommen.» Sie will deshalb das Thema wieder aufs Tapet bringen.

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