SDA-Journalistin Vera Pagnoni: «Attacke auf die ganze Branche»

An einem Tag schreibt sie über den Bundesrat, am nächsten über ein Erdbeben in Taiwan – und das alles auf italienisch: Vera Pagnoni (46) arbeitet seit 20 Jahren für die Nachrichtenagentur SDA.

SCHREIBEN UND DEMONSTRIEREN. Vera Pagnoni (46) und ihre Kolleginnen und Kollegen nehmen den Abbau bei der SDA nicht einfach hin. (Fotos: Franziska Scheidegger)

Langsam hat sie Demo-Erfahrung. Auch an diesem Donnerstag – ihrem freien Tag – war Vera Pagnoni schon an einer Kundgebung vor dem Berner Nobelhotel Bellevue. Tamedia-Chef Pietro Supino wollte dort ein Referat zur «Medienvielfalt» halten. Aus­gerechnet Supino, dessen Verlag immer mehr Redaktionen zusammenlegt. Vor dem «Bellevue» protestierten Journalistinnen und Journalisten von der «Berner Zeitung», dem «Bund» und der SDA mit ­Supino-Masken gegen den Stellenabbau. Den echten Supino bekamen sie allerdings nicht zu Gesicht. «Er muss durch eine Hintertür gekommen sein», sagt Vera Pagnoni. Trotzdem konnten sich die Medienschaffenden zumindest in den sozialen Medien Gehör verschaffen. Es ist eine ganz neue ­Situation, in der sich Vera Pagnoni plötzlich befindet: Wer bei der SDA arbeitet, sucht nicht das Rampenlicht, sieht seinen Namen kaum je in einer Zeitung, verschwindet hinter dem Kürzel. Die SDA steht nicht für die grossen, aufregenden ­Reportagen. Sie steht für Korrektheit und Genauigkeit. Etwas böswillig könnte man sagen: Die SDA-Leute sind die Beamten unter den Medienschaffenden. Vera Pagnoni steht über solchen Vergleichen und sagt: «Ich schätze die Seriosität und dass alles geprüft sein muss.»

NIE BEREUT. Pagnoni hat in Zürich Italienisch, Spanisch und Publizistik studiert, danach bei der SDA ein Praktikum absolviert – und ist gleich dort geblieben. «Als italienischsprachige angehende Journalistin nimmst du, was kommt», sagt sie pragmatisch. «Da ich in der Deutschschweiz bleiben wollte, war das für mich eine gute Chance.»

Und sie hat ihre Wahl nie bereut – im Gegenteil: Sie schätzt die Vielfalt in ihrem Arbeitsalltag. Der italienischsprachige Dienst der SDA deckt alle klassischen Ressorts (ausser Sport) ab. So kann es vorkommen, dass Pagnoni am gleichen Tag über zwei Pressekonferenzen im Bundeshaus berichtet, internationale Agenturmeldungen bearbeitet, den Jahresbericht von Novartis zusammenfasst und schliesslich noch ein paar «vermischte Meldungen» schreibt. ­Zudem ist der Berufsalltag bei einer Agentur besser planbar als auf einer Zeitungs­redaktion. Für die dreifache Mutter ist das ein Plus.

Ihr Job ist zwar durch den Abbau von 35 Stellen bei der SDA nicht direkt gefährdet. Aber natürlich gehen die Turbulenzen auch an denjenigen nicht spurlos vorüber,
die bleiben dürfen. Der Arbeitsalltag sei nicht mehr wie vor dem Streik. Einerseits sei die Redaktion zusammengerückt, andererseits herrsche eine seltsame Stimmung. «Ich komme auf die Redaktion und weiss, der wurde entlassen, oder die geht freiwillig.» Und trotzdem: «Ich staune, mit welcher Kraft und Qualität Leute ihren Job machen, die die Kündigung erhalten haben.»

AM PULS DER ZEIT: Als Journalistin hört Vera Pagnoni vielen Menschen zu, macht sich Notizen und schreibt die aktuellen Nachrichten.

SCHOCK. Als Pagnoni bei der SDA anfing, konnte sie sich nicht vorstellen, innerhalb eines Monats mehrfach für ihren Berufsstand auf die Strasse zu gehen. «Wir sind uns einig, dass die SDA sparen muss», sagt sie. «Aber wir waren alle schockiert, wie die Sparmassnahmen umgesetzt werden sollen. Plötzlich hiess es einfach: puff, 35 Stellen sind gestrichen.» Man merkt: Es war die schiere Verzweiflung, das Gefühl, immer wieder gegen eine Wand zu rennen, das sie und ihre Kolleginnen und Kollegen in den Arbeitsstreik getrieben hat. Der Schock wirkt nach: Er zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab, wenn sie über Kollegen spricht, die nach 35 Jahren auf die Strasse gestellt werden. «Für uns waren das die Säulen der Agentur. Und jetzt werden sie praktisch weggeschmissen», sagt sie. Dass die ersten Betroffenen bereits seit Ostern ohne Job dastehen, konnte der Streik nicht verhindern. Hat sich der Kampf trotzdem gelohnt? «Es war nicht umsonst», sagt Pagnoni. Sie habe viel Solidarität erfahren und gemerkt, wie wichtig die Berufsverbände und Gewerkschaften seien. «Die Gewerkschaften haben unsere Redaktionskommission sehr professionell unterstützt», betont Pagnoni.

Wenn sie heute Wirtschaftsmeldungen verfasst, bei denen es um Stellenabbau geht, ist das für sie nicht mehr nur journalistisches Handwerk. «Nun ist mir viel bewusster, was das heisst», sagt sie. Und wenn sie mitbekommt, dass wieder irgendwo eine Journalistin entlassen wird, geht ihr das nahe. «Die ganze Medienbranche ist unter Attacke. Das ist hart», sagt sie. Um ihre eigene Zukunft macht sich Vera Pagnoni nicht so grosse Sorgen – nebst ihrem 40-Prozent-Job bei der Agentur arbeitet sie schon jetzt als Übersetzerin und in der Kommunikation. Trotzdem nimmt die Situation sie mit: «Ich bin wütend über die Respektlosigkeit und Kälte, mit der die Geschäftsleitung agiert hat. Das ist nicht mehr die SDA, bei der ich vor 20 Jahren angefangen habe.»


Vera Pagnoni Tessinerin in Bern

Ihre journalistische Feuertaufe erlebte die Tessinerin 1999, als im Saxetbach im Berner Oberland 21 junge Menschen beim Canyoning ums Leben kamen. «Es war Sommer, viele waren im Urlaub, also mussten wir aus­rücken», sagt sie. «Ich fand es sehr anstrengend.» Diese Erfahrung hat ihr aber gezeigt, dass sie auch unter Druck gute Arbeit abliefern kann – beste Voraus­setzungen für einen Agenturjob.

KOMMUNIKATIV. Vera Pagnoni ist in Locarno aufgewachsen und lebt mit ihrem Partner und den drei Söhnen Giona (13), Elia (11) und Enea (7) in Bern. Es ist ihr wichtig, nicht nur für den Job zu leben – so hat sie sich etwa jahrelang im Verein Spielplatz Schützenweg engagiert. Obwohl auch ihr Partner im Tessin aufgewachsen ist, stand eine Rückkehr nie zur Diskussion. Bern ist ihre Wahl­heimat. Ihre hervorstechendste Eigenschaft? «Ich bin sehr kommunikativ. Mein Mann würde sagen: zu kommunikativ», sagt sie lachend.

Wenn ihr Kopf zu voll ist von all den Informationen, die sie täglich verarbeiten muss, geht sie spazieren, liest ein Buch oder entspannt sich mit Aerobic oder Pilates. Vera Pagnoni ist Mitglied beim Berufsverband Impressum und verdient brutto rund 3400 Franken auf 40 Stellenprozente.

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