Gebärdensprachlehrerin Ariane Gerber: «Um vieles muss man kämpfen»

Gehörlose Kinder müssen lernen, was andere Kinder lernen. Aber auch, wie sie sich als Teil einer Minderheit in der Gesellschaft behaupten. Ariane Gerber unterstützt sie darin.

GEBÄRDENSPRACHE. Ariane Gerber, selbst gehörlos, unterrichtet in Münchenbuchsee gehörlose Kinder. (Fotos: Franziska Scheidegger)

Es ist ungewohnt still im Klassenzimmer, in dem sechs Kinder um den ovalen Holztisch sitzen und gemeinsam mit ihrer Lehrerin eine Bildergeschichte besprechen. In schneller Abfolge von Gebärden erklärt Ariane Gerber die Bedeutung der Geschichte, stellt oder beantwortet Fragen. Auch die Kinder kommunizieren in Gebärdensprache, in einem Tempo, das dem ahnungs­losen Zuschauer keine Chance zum Mitkommen lässt. Zwischendurch bricht Gelächter unter den Kindern aus, ein Mädchen hat die Gebärden für Nikolaus und Ziege verwechselt, bei beiden greift man sich ans Kinn.

Ariane Gerber ist Gebärdensprach­pädagogin am Zentrum für Hören und Sprache Münchenbuchsee (HSM) und selbst seit ihrer Geburt gehörlos. In dem farbig bebilderten Klassenzimmer unterrichtet sie Dritt- und Viertklässler im Fach «Pro G». Die Abkürzung dieses Pflichtfachs steht für Pro Gehörlose / Pro Gebärdensprache. «Wir Gehörlose sind eine Minderheit», erklärt Ariane Gerber, «damit umzugehen ist für Kinder nicht immer einfach.» Es gehe darum, den Schülerinnen und Schülern zu zeigen, dass sie nicht alleine seien und es auch gehörlose Vorbilder gebe, wie etwa das amerikanische Topmodel Nyle ­DiMarco. «Solche Beispiele können helfen, die eigene Identität besser zu akzeptieren.»

Auch Ariane Gerber fühlte sich in ihrer Kindheit oft unsicher und fehl am Platz. Das ist heute nur schwer zu glauben, wenn sie einem gegenübersitzt und ihre gut verständlichen Worte mit Gebärden begleitet. Zu vielen Fragen hat sie eine klare Haltung. Etwa, wenn es um das Thema Inklusion in der Schulbildung geht: «Inklusion wird oft gefordert, aber ich bin davon gar nicht begeistert. Damit diese funktioniert, müssten sich beide Seiten anpassen. Meist ist damit aber gemeint, dass sich Gehörlose anpassen sollen.» Sie selbst ging bis zur sechsten Klasse mit Hörenden zur Schule. Danach kam sie auf eine Gehör­losen-Sekundarschule in Zürich: «Damit hat sich für mich ein Tor geöffnet. Ich habe gemerkt, dass ich nicht alleine bin, und gelernt, meine Identität zu akzeptieren.»

HAND, KÖRPER, MUND. Ariane Gerber gibt auch Sport und das Fach «Bilingual Deutsch – Deutschschweizer Gebärdensprache». Gemeinsam mit einer hörenden Lehrperson vermittelt sie dort den Kindern Unterschiede zwischen Schrift- beziehungsweise Lautsprache und der Gebärdensprache. Der Geräuschpegel ist dabei schon etwas höher. Die fünf Sechstklässler an den Pulten kommunizieren manchmal mit Händen und Körper, manchmal in Lautsprache, die Übergänge sind fliessend.

Ariane Gerber ist seit fünf Jahren am HSM tätig. Zuvor hat sie als Gebärdensprachausbildnerin in der Erwachsenen­bildung gearbeitet. An der Universität Hamburg liess sie sich zur Gebärdensprachpädagogin ausbilden. In der Schweiz ist sie bisher die einzige Lehrperson mit dieser Ausbildung. Und Hamburg ist der einzige Ort, der diese Weiterbildung anbietet. «Diese Zeit war sehr intensiv, aber für mich äusserst interessant. Ich erhielt einen Einblick in verschiedene Schulen und durfte mich mit der Situation der Gehör­losen in Deutschland auseinandersetzen.» Für sie war aber immer klar, dass sie danach wieder zu ihrer Arbeit in der Schweiz zurückkehren würde. «Ich könnte mir schon vorstellen, wieder ins Ausland zu gehen», erklärt sie, «aber im Moment habe ich das Gefühl, Münchenbuchsee braucht mich. Und das ist ein gutes Gefühl.»

EINE SPRACHE FÜR SICH: Die Gebärdensprache baut auf dem Fingeralphabet auf. Die Hand rechts verkündet kurz und bündig: «ILY – I love you.»

BITTE HOCHDEUTSCH. Ihre Arbeit empfindet sie aber trotzdem nicht immer als ­einfach. An Sitzungen ist sie auf einen Dolmetscher angewiesen. Wenn diese aber kurzfristig angesetzt werden, ist es meist nicht möglich, einen zu organisieren: «Für mich stellt sich dann die Frage, ob ich die Sitzung absagen und im nachhinein das Protokoll lesen solle. Dann habe ich aber keine Möglichkeit mitzureden.» Auch sonst werde ihr oft bewusst, dass sie als gehörlose Lehrerin auch am HSM eine Minderheit sei. «Viele Mitarbeitende sind sich dessen nicht bewusst und sprechen mich auf schweizerdeutsch an.» Dann muss sie jeweils erklären, dass sie nur Lippen lesen könne, wenn das Gegenüber Hochdeutsch spreche. «Ich musste um vieles kämpfen in den letzten fünf Jahren. Zwar werde ich ernst genommen, doch ich habe das Gefühl, meine Wünsche immer sehr gut begründen zu müssen.»

In den Ferien zieht es Ariane oft ins Ausland. «Am liebsten möchte ich überall hin», sagt sie und lacht. «Aber fürs erste geht’s im Frühling nach Albanien und im Sommer wohl nach Peru.» Dabei profitiert sie von vielen Bekanntschaften, die sie sich über die Jahre aufgebaut hat. Etwa durch ihre Arbeit beim Europäischen Verband Gehörloser Jugendlicher, für den sie einige Jahre im Vorstand tätig war. Ariane Gerber ist auch neugierig zu sehen, wie Gehörlose in anderen Ländern leben. «Skandinavien ist ein Traum, ein richtiger Sozialstaat eben. Die Schweiz könnte sich da einiges abschauen», erklärt sie, «die Lebensqualität hier ist zwar sehr hoch, aber im Umgang mit Gehörlosen sind wir im Rückstand.»


Ariane Gerber: Die Pionierin

Zunächst absolvierte Ariane Gerber (33) eine Lehre zur Schrift- und Reklamegestalterin. Sie bezeichnet sich als sehr visuellen Menschen, arbeitet heute noch gerne im grafischen Bereich. Doch damals habe sich die Kommunikation bei der Arbeit als grosse Hürde erwiesen. An der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik bildete sie sich zur Gebärdensprachausbildnerin weiter und arbeitet seither in der Erwachsenenbildung. 2012 erhielt sie eine Anstellung am Zen­trum für Hören und Sprache Münchenbuchsee und beendete letzten Oktober die Ausbildung zur Gebärdensprach­pädagogin an der Universität Hamburg.

SPORTLICH. Zum Ausgleich geht die Lehrerin ins Fitnessboxen im Boxclub Bern, zum bekannten Trainer Bruno Arati. «Dort fühle ich mich sehr wohl, Arati ist super!» Um zu entspannen, gehören Stretching und Meditation bei ihr zum fixen Programm. Sport ist seit der Kindheit ein wichtiger Bestandteil in ihrem Leben, mit vierzehn Jahren war sie bereits Mitglied im Ski-Nationalteam der Gehör­losen.

6 Kommentare

  1. Mathias Schäfer 7. März 2018 um 19:13 Uhr

    Toll, einfach toll! Wir alle sind mächtig stolz auf dich! Denn die Welt braucht noch mehr solche Persönlichkeiten wie du. LG mat

  2. Vreni Schneider 7. März 2018 um 19:12 Uhr

    Eine tolle Laufbahn, super hast du das gemacht! Weierhin alles Gute wünscht dir Vreni Schneider

  3. Krähenbühl Rösi 7. März 2018 um 12:41 Uhr

    Sehr interessant weiter so, habe grosse Achtung.
    Wünsche Dir viel Erfolg und Freude.

  4. Karlen Emilia 6. März 2018 um 20:23 Uhr

    Ein tolles Bericht und ich wünsche dir viel Erfolg und Spass.

  5. Siegenthaler Elisabeth 6. März 2018 um 18:02 Uhr

    Ganz herzliche Gratulation!!! wünsche dir alles Gueti ea liebs grüessli lisabeth

  6. Kuster Ursula 6. März 2018 um 13:31 Uhr

    Super Gratulation grosser Erfolg.Wünsche alles Gute Ursula

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