Deutschland liebt «Mutti» Merkel immer noch. Tendenz: abnehmend.

Schon wieder Kanzlerin!

Michael Stötzel

Zwölf Jahre an der Macht: Bundeskanzlerin Angela Merkel ist ein Phänomen. Aber jetzt ist sie auch «die Mutti» der Rechtsradikalen.

Die Verwirrung nach den deutschen Bundestagswahlen ist gross. Zum Beispiel bei den Dampfplauderern aus der Ökonomenzunft. Am Morgen danach erklärte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher: «Bessere Bildung und Qualifizierung, gezieltere Leistungen des Sozialstaates und eine stärker auf die Zukunft ausgerichtete Wirtschaftspolitik sind die richtigen Antworten auf das Erstarken des Populismus.» Er reagierte damit auf die Tatsache, dass die rechtsradikale Partei AfD zur drittstärksten Partei Deutschlands aufgestiegen ist. Hinter CDU/CSU und SPD. Fratzschers Rezept gegen den Aufstieg der Rechtsradikalen hatte im Wahlkampf auch Martin Schulz vertreten. Der Bundeskanzlerkandidat der SPD und Merkels Konkurrent. Und war dafür bitter bestraft worden. Die SPD schreibt das schlechteste Wahlresultat ihrer Geschichte.

VERLORENE JAHRE

Vergleichbare Rezepte gegen rechts hatte auch Kanzlerin Angela Merkel geäussert. Womit beide, SPD und CDU, immerhin eins zugaben: In den bisher zwölf Merkel-Jahren, davon acht Jahre mit der SPD als Juniorpartnerin, haben sie beide die nach ihrer Ansicht entscheidenden Fragen verschlafen. Das belegen offizielle Statistiken. Trotz stetig wachsender Wirtschaftsleistung ist die Armutsquote in Deutschland hoch wie nie. Knapp 16 Prozent der Bevölkerung, 13 Millionen Menschen, sind arm. Die Arbeitslosenquote ist niedrig, aber zehn Prozent aller Berufstätigen sind zumindest armutsgefährdet. In Städten wie Dortmund, Bremen, Berlin oder Hamburg sind es mehr als 20 Prozent. Merkel lobt sich für eine schwarze Null im Bundeshaushalt. Dafür rottet die Infrastruktur vor sich hin. Der öffentliche Verkehr ist ein schlechter Witz, Rheinbrücken in Nordrhein- Westfalen sind einsturzgefährdet, Schulen rufen die Eltern dazu auf, mal am Wochenende ein Klassenzimmer anzustreichen. Die digitale Vernetzung ist schlechter als in Mexiko (vor dem Erdbeben). Die Autobauer, Deutschlands Schlüsselindustrielle, können – dank Merkels Intervention in Brüssel – weiter Autos verkaufen, die die Stadtluft vergiften usw. Die Kanzlerin bilanzierte diese Misere in ihrem Wahlkampf ganz ungerührt so: Sie stehe «für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben».

Überwiegend heiter: Nur selten hatte Angela Merkel in ihrer bisherigen Karriere Anlass, einen Lätsch zu ziehen – sie blieb ja meistens Siegerin. (Fotos: Getty Images, Keystone, Wikimedia)

«KOHLS MÄDCHEN»?

Merkel siegte damit trotz massiver Verluste immer noch unangefochten: Die alte Kanzlerin ist auch die neue Kanzlerin. Im Gegensatz zu ihrem Konkurrenten Schulz setzte sie auf eine seltsame Verwirrung der Wählerinnen und Wähler. Obschon es vielen von ihnen objektiv nicht gutgeht, weil sie prekäre Arbeitsverhältnisse haben und Abstiegsängste, erklärt eine breite Mehrheit, persönlich gehe es ihnen gut. Trotz allen politischen Gezeters über Ausländer, die «Umvolkung Deutschlands» oder unsichere Strassen. Diese Mehrheit konnte Martin Schulz mit seiner Forderung nach «mehr Gerechtigkeit» offenbar nicht überzeugen.

Verloren hat der Sozialdemokrat aber auch bei den Frauen, die traditionell eher als die Männer zur SPD hielten. Denn ihnen eröffnet Merkel in der Tat eine Machtperspektive. Wenn auch eine, die haargenau den Regeln der Männer folgt.

Die Chefin des feministischen Kampfblattes Emma, Alice Schwarzer, eine glühende Verehrerin der Kanzlerin, schrieb zu deren 60. Geburtstag (2014): «Seit Merkel wissen die kleinen Mädchen: Ich muss nicht Friseurin, ich könnte auch Kanzlerin werden. Allein dafür hat es sich schon gelohnt.» Auch Frauen brauchen Vorbilder, das ist wichtig. «Grosse» Frauen, die es wagen. So wie Merkel. Das bedeutet aber nicht, dass der soziale Aufstieg für die Mehrheit der Frauen einfacher geworden ist. Königin Merkel ist und bleibt auch international gesehen einsame Spitze. Ein erstaunliches Phänomen. In der letzten Augustausgabe widmete ihr die US-amerikanische «Vogue» eine grosse Geschichte, illustriert mit einem Portrait von Elisabeth Peyton, die Bekanntheit durch liebliche Bilder von Filmstars gewann. Front-Anriss («Führerin der freien Welt?») inklusive. «Angela Merkel im Pop-Olymp», kommentierte der Deutschlandfunk.

Merkel wollte da hinauf, koste es, was es wolle. Sie rief die Frauen auf, nach der Macht zu greifen, zu einer Zeit, als die Männer ihrer Partei sie noch als «Kohls Mädchen» verspotteten. Kanzler Helmut Kohl war ihr Ziehvater gewesen. Auch er hatte sie offenbar unterschätzt. Merkel war angepasst, willig und fleissig. Und so erschien sie nach Kohls Ende im Jahr 2000 als geeignete Übergangslösung an der Parteispitze.

Viele Herren standen bereit, sie nach getaner Aufräumerei wieder abzulösen. Ihnen gegenüber kam sie einmal kurz aus der Deckung. Und erklärte, mit ihr wechsle die CDU vom 20. ins 21. Jahrhundert. Um sich dann gleich wieder zurückzunehmen und unauffällig weiterzuklettern. Geradezu beispielhaft war die schrittchenweise vollzogene Veränderung ihrer Frisur vor ihrer ersten, noch erfolglosen Kandidatur als Kanzlerin im Jahr 2003. Von einer wie mit der Nagelschere selbstgestutzten Prinz-Eisenherz- Frise wechselte sie zum meisterhaft geschnittenen, leicht stufigen Pagenkopf mit lockerem Pony, ohne dass es gross auffiel.

MEISTERIN DER TAKTIK

Man könnte glatt behaupten, Merkel habe ihre Vorgehensweise in der Politik damals ihrem Coiffeur abgeschaut. Einschneidende Erneuerungen in der CDU und damit auch im Land vollzog sie stets langsam, wie nebenbei. Und zum sorgfältig gewählten Zeitpunkt. Fast geräuschlos räumte sie politische Positionen ab, die bis dahin zum Markenzeichen der Konservativen gehörten. Zum Beispiel die Wehrpflicht oder den Atomstrom, den Widerstand gegen Kinderkrippen oder Stammzellenforschung. Und jüngst noch das Verbot der Schwulenehe.

Ihr unaufgeregt bedächtiger Stil, ihre sympathische Abneigung gegen politisches Pathos und nicht zuletzt ihre Kleiderwahl brachten ihr den Spitznamen «Mutti Merkel» ein. Schwer vorstellbar, dass ihr das gefällt. Und weit entfernt von der Realität. Denn Söhne, die zu erwachsen werden wollten, strafte sie stets und radikal: Eine ganze Riege selbsternannter Kronprinzen verschwand praktisch spurlos von der Bildfläche. Und wer sich mit ihr ins Koalitionsbett legte, einmal die FDP, zweimal die SPD, kroch als Polit- Zombie wieder raus. Aller eigenen Positionen und der Wählerschaft beraubt. Auch taktisch ist sie ihren Gegnern eben hoch überlegen, da zeigt sich die Schulung in der DDR, wo sie aufwuchs und studierte.
Vielleicht hat ihre inzwischen erreichte Souveränität zum Schluss sie selbst geblendet. Offenbar glaubte sie, die Rechten so weit zivilisiert zu haben, dass diese endlich auch die Realität Deutschlands als Einwanderungsland akzeptieren können. Sie taten es jedoch nicht und ziehen jetzt als grölendes Nazipack ins Parlament ein. Eine schwergewichtige rechte Konkurrenz, das kann und wird die CDU ihrer Chefin nicht verzeihen.

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