Katastrophe von Mattmark 1965
Wie Profitstreben und Machbarkeitswahn in den Untergang führten

88 Arbeiter starben 1965 am Mattmark-Staudamm bei der grössten Katastrophe der Schweizer Baugeschichte. Ein Andenken und ein Gespräch über Sicherheit auf dem Bau. 

DAS GROSSE CHAOS: In den Wochen nach dem Unglück versuchten Überlebende und Helfer sowie das Militär zu retten, was noch zu retten war. Wie hier am Tag nach dem Unglück, am 31. August 1965.  (Foto: Keystone)

Wir stehen, den Hut in der Hand, fünfzig Jahre nach der grössten ­Katastrophe der Schweizer Bau­geschichte vor den Grabsteinen von Francesco Achenza, Giovanni ­Baracco, Alessio Cecon, Rubelio ­Pinazza, Salvatore Veltri, Giovanni Zasio, Pius Hischier und ihren achtzig erschlagenen Kollegen. Wir denken daran, dass unser Land vor allem von ausländischen Arbeitern ausgebaut wurde und immer noch ausgebaut wird. Die Schweiz mit ­ihren Strassen, ­Eisenbahnlinien, Tunnels und Hochhäusern.

Wir denken an ­Albula, Simplon, Lötschberg, Hauenstein, Ricken. An 1415 Kilometer ­Autobahnen von der A 1 bis zur A 16, an 70 000 Kilometer Kantons­strassen und noch mehr Kilometer Dorfwege. An Grande Dixence, Zervreila, Albigna, Grimsel und eben Mattmark. Doch auch vor der Kata­strophe am 30. August 1965 im Saastal kamen Hunderte Arbeiter auf unseren Baustellen ums Leben. Allein beim Bau des Gotthardtunnels starben gegen 200 Menschen bei Unfällen. Noch viel mehr starben an Krankheiten wegen schlechter hygienischer Verhältnisse auf den Baustellen. 

In Mattmark aber waren es auf einen Schlag 88 Tote und 5 Verletzte. 56 der von Eis und Schutt Erschlagenen kamen aus Italien, 24 aus dem Oberwallis und aus der weiteren Schweiz, 3 aus Spanien, 2 aus Österreich, 2 aus Deutschland, und einer war staatenlos. 

Der Dank des Landes 

In der Zeitung des Bau- und Holzarbeiterverbandes (SBHV) stand zu lesen, dass die Arbeiter das Knirschen, dann das Krachen gehört hätten und in ihre Baracken rannten – direkt in den Tod. Das Lager stand genau in der Falllinie des Gletschers. Die Gerichte haben die Verantwortlichen der federführenden Firma Elektrowatt, ihre Ingenieure und die Suva-Kontrolleure in zwei Instanzen freigesprochen: Naturkatastrophe. Die Klägerfamilien der Opfer sollten dem Kanton Wallis gar noch 3000 Franken an die Prozesskosten bezahlen. Das Bild der Schweiz in der Welt: selbstgerecht, hartherzig, ungerecht.

64 der 88 getöteten Bauarbeiter waren Ausländer. Im Jahr der Katastrophe wurden die Unterschriften für die erste Überfremdungsinitiative gesammelt. Insgesamt acht sollten es bis heute werden. Im Unterschied zur Masseneinwanderungsinitiative von 2014 scheiterten damals alle, die Initiative von James Schwarzenbach im Jahr 1970 jedoch nur knapp. Als die Wirtschaft in die Krise geriet, wurden 300’000 Italienerinnen und Italiener nach Hause geschickt. So ging – und geht – Schweizer Dankbarkeit. 

Noch viel zu tun 

Wie aber steht es um die Sicherheit auf den Baustellen fünfzig Jahre später? Was hat die Bauwirtschaft gelernt? Wie hat der gewerkschaftliche Kampf die Sicherheit am Arbeitsplatz verbessert? Das erklärt ­Dario Mordasini, der Unia-Experte für Gesundheitsschutz und Arbeitssicherheit, im folgenden Interview.

Dario Mordasini

Mattmark, was bedeutet das für Sie?
Dario Mordasini: Meine Mutter kam aus Sospirolo in der italienischen Provinz Belluno. Viele der Opfer von Mattmark kamen von dort. Und mein Vater war Bauarbeiter. Deshalb ging mir das schon nahe, auch wenn ich nur wenig präzise Erinnerungen habe. Wir hatten damals keinen Fernseher.

Welche Folgen hatte die ­Katastrophe für die Sicherheit auf den Baustellen?
Was in Mattmark passierte, könnte heute wohl kaum mehr so geschehen. Gerade Grossbaustellen sind in der Regel gut gesichert. Aber erst im Jahr 1996 hat die Eidgenössische Koordinationskommission für Arbeitssicherheit eine Richtlinie verabschiedet, welche die einzelnen Präventionsmassnahmen zu einem Konzept bündelt und sie für alle Branchen und Firmen verbindlich macht.

Mattmark gilt als die grösste Katastrophe in der Schweizer Baugeschichte. An welche anderen Katastrophen müssen wir uns auch erinnern? 
Zu gedenken ist vor allem der Asbestopfer. Die Suva hat bis heute 1700 Tote wegen Asbestfasern registriert. Jedes Jahr kommen allein in der Schweiz mehr als hundert dazu. Auch in Italien sind Todesopfer zu beklagen. Viele der Arbeiter, die bis zum Verbot 1990 Asbest verarbeitet hatten, kehrten danach in ihre Heimat zurück.

Welche Gesundheitsrisiken dominieren denn die heutige Arbeitswelt?
Obschon die Zahl der Unfälle zurückgeht, ereignen sich jährlich gut 250’000 Berufsunfälle, ein Viertel davon auf dem Bau. Bedenklich sind die Erkrankungen. 670’000 Menschen leiden an Beschwerden am Skelett, am Rücken oder an den Muskeln. 1,4 Millionen Arbeitnehmende klagen, am Arbeitsplatz gestresst zu sein. Eine grosse Herausforderung stellen die zunehmenden psychischen Erkrankungen dar. 

Gibt es punkto Sicherheit am Arbeitsplatz Konflikte zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und Staat?
Alle haben ein Interesse, menschliches Leid zu verhindern und Kosten zu senken. Auch sind die Unfallversicherung und die Arbeitsgesetzgebung seit Mattmark verbessert worden. Dennoch bleiben Forderungen offen. Wir sollten zum Beispiel den Arbeitsärzten mehr Einfluss verschaffen und ihre Empfehlungen verbindlicher machen. Auch müssten die Betriebe mehr für die Prävention von psychischen Krankheiten tun. Das darf nicht auf die einzelnen Angestellten abgewälzt werden.

Was sind Ihre Erwartungen, damit Baustellen sicherer werden? 
Es sind das Durcheinander sowie der Zeit- und Spardruck, die zu Unfällen führen. Bereits bei der Planung sollte die Gesundheit der Arbeiter berücksichtigt werden. Mit technisch-organisatorischen Massnahmen lässt sich viel vorkehren. Man kann einen Bauplatz so einrichten, dass die Arbeiter möglichst wenig tragen müssen. Die Zufahrtswege sollten breit genug sein. Dann ist ein kluger Ablauf- und Zeitplan nötig. Kurz: Mit einem verbindlichen Logistikkonzept könnte viel erreicht werden. 

Arbeitssicherheit spielt auch im Streit um den Landesmantelvertrag im Baugewerbe eine Rolle. Die Unia verlangt bessere Schlechtwetterentschädigungen. 
Ja, Witterungseinflüsse spielen auf dem Bau nach wie vor eine grosse Rolle. Dies hat in Genf eine Studie im Auftrag der Gewerkschaften gezeigt. Die Belastungen durch ex­treme Hitze und hohe Ozonwerte diesen Sommer sind noch in bester ­Erinnerung. Es ist zweifellos wichtig, griffige Bestimmungen auf Gesetzesebene und branchenspezifische Massnahmen in Gesamtarbeitsverträgen verbindlich zu verankern.

* Köbi Gantenbein ist Chefredaktor der Architekturzeitschrift «Hochparterre». Sein Text erschien in der neuesten Ausgabe.

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