Das war 2019: Ein Blick zurück, einer nach vorne

Das Wendejahr

Marie-Josée Kuhn

Was für ein bewegtes und bewegendes Jahr 2019 doch ist – und bald schon war! Wie ein lila Lauffeuer eroberte zuerst der Frauenstreik die Schweiz. Und dann stand plötzlich Greta Thunberg da, wie von einem anderen Stern, und rief: «Solange ihr euch nicht darauf konzentriert, was getan werden muss, sondern darauf, was politisch möglich ist, gibt es keine Hoffnung.» Und ihre Worte schlugen ein wie Blitze. Die Klima­bewegung war geboren. Und wieder drängten gegen 100’000 Menschen auf die Stras­sen. Bern barst aus allen Nähten.

BLEIERNE JAHRZEHNTE VORBEI. Endlich wollen die Jungen und viele Ältere wieder die Welt verändern. Nach bald dreissig Jahren neoliberaler Gehirnwäsche und Sparprogrammen ist das eine Wohltat. Der Vormarsch der Frauen-, Fremden- und ­Klimafeinde Trump, Orbán, Salvini & Co. hat eine Repolitisierung ausgelöst. Weil sich Geschichte nie linear bewegt. Weil es immer gleichzeitig vorwärts- und rückwärtsgeht. Oder umgekehrt.

Die neue Sonne ist rot-grün-pink. Das Sünneli war gestern.

2019 ist ein Wendejahr, zumindest in der Schweiz. Ein freudiges, denn endlich ist auch die harte rechte Mehrheit im Bundesparlament weg. Diese Phalanx aus FDP und SVP, die im Nationalrat vier Jahre zu lange die absolute Mehrheit hatte. Und ab dem ersten Tag sozialen und gesellschaftspolitischen Fortschritt verhindert hat. Seit den Wahlen ist Bundesbern jünger, weiblicher, grüner und linker geworden. Auch arbeitnehmendenfreundlicher. Das ist dringend notwendig, denn die Zeit drängt. Beim Klima ebenso wie bei der Altersvorsorge. Die Gletscher schmelzen fast gleich schnell wie unsere BVG-Renten. ­Deshalb braucht es den ökosozialen Umbau. Eine Umlagerung auf erneuerbare Energien und eine Umlagerung hin zur effizienten und sozialen AHV. Zudem: mehr Lohngleichheit und weniger toxische Männlichkeit.

NUR UMBAU OHNE SOZIAL GEHT NICHT. Weder beim Klima noch bei der Altersvorsorge. Das haben uns in diesem Jahr die Gilets jaunes in Frankreich und der britische Brexit gelehrt.

Die Gelbwesten: Was mit einem Blog gegen die Dieselsteuer begann, wurde in wenigen Wochen zur Forderung nach mehr Kaufkraft, dann zur Kritik an der Ungleichheit in der Gesellschaft. Eine soziale Revolte gegen Sozialabbauerpräsident Emmanuel Macron, der gleichzeitig die Reichen und Konzerne grosszügig beschenkt. Diese Rechnung geht nicht auf. Auch nicht ennet des Kanals. 2019 versank Grossbritannien im Brexit-Chaos. Wirtschaftlich und politisch. Selbst die britische Regierung weiss es: Der Ausstieg aus der EU schadet der Wirtschaft. Brexit ist Exit. Mehr noch: Er stresst und verunsichert, er stört den Schlaf, und er entzweit ganze Familien. So beschreiben es neuerdings britische Psychotherapeutinnen und -therapeuten. Brexit ist zwar keine Diagnose, aber der Ursprung für psychisches Leiden. Und existentielles: Kopfüber und ohne Lohnschutz stürzte sich das Königreich ins Abenteuer Personenfreizügigkeit. Ein Kapitalfehler, wie sich immer deutlicher zeigt, denn der fehlende Schutz vor Sozial­dumping war der Anfang vom Brexit.

DA IST DIE SCHWEIZ BESSER DRAN. Dank den Gewerkschaften. Sie haben den Schweizer Lohnschutz 2019 erfolgreich verteidigt. Und den SVP-hörigen Aussen­minister Ignazio Cassis gestoppt. In den Verhandlungen über das Rahmen­abkommen mit der EU bot der Tessiner den Schweizer Lohnschutz zum Abschuss an. Und befeuerte damit den Schwexit, den die SVP mit ihrer Kündigungsinitiative will. Wie brandgefährlich das ist, haben inzwischen selbst viele Bürgerliche begriffen und möchten Kamikaze-Cassis am liebsten aus dem Aussendepartement entfernen. Den Reset-Knopf, den dieser in der Europapolitik einst drücken wollte, haben 2019 nun andere gedrückt. Die neue Sonne ist rot-grün-pink. Das Sünneli war gestern. Nicht nur in der Europapolitik.

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