Menschenhandel: Die Unia geht in die Offensive

20 Rappen pro Stunde in Crans-Montana

Jonas Komposch

Menschenhandel zwecks Ausbeutung der Arbeitskraft ist ein Verbrechen. Dennoch versuchen es Unternehmer immer ­wieder. Auch in der Schweiz. Und nicht nur im Rotlichtmilieu.

STOPPT MENSCHENHANDEL! Aktion von Amnesty International am Flughafen München. (Foto: Getty)

Das Onlineinserat versprach «interessante» Stundenlöhne von 10 bis 12 Euro und Gratisverpflegung in der wohlhabenden Schweiz. So lockte ein litauischer Unternehmer 14 Bauarbeiter aus Osteuropa an den Genfersee. Dort warteten Renovationsarbeiten an gediegenen Villen auf sie. Und im Walliser Nobelort Crans-Montana galt es, Chalets umzubauen. Die Arbeiter hingegen mussten in gammligen Massenschlägen hausen. Vier Jahre lang, dann flog alles auf: Der Chef hatte die Büezer gezwungen, 6 bis 7 Tage pro Woche durchzuarbeiten – zu Hungerlöhnen von 20 Rappen (ja, Rappen!) bis 6.50 Franken pro Stunde! Wer sich wehrte, wurde «mit physischer und psychischer Gewalt» zum Schweigen gebracht. So die Erkenntnis des Genfer Strafgerichts, das den Chef im April 2020 zu sechs Jahren Gefängnis verurteilte. Sein schwerstes Verbrechen: «Menschenhandel zwecks Ausbeutung der Arbeitskraft».

«Menschenhandel ist eines der schrecklichsten Verbrechen überhaupt.»

REKORDJAHRE

Diese Form des Menschenhandels verbietet das Schweizer Strafgesetzbuch seit 2006 explizit. Doch Strafurteile dazu sind extrem selten. Bis 2018 haben Gerichte nur zehn Mal ein Urteil gesprochen. Das erstaunt. Denn allein im Jahr 2020 registrierte die Schweizer Plattform gegen Menschenhandel, Plateforme Traite, 24 neue Opfer. Sogar 50 Fälle zählte die Fachstelle für Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ). Hinzu kommen 176 Fälle in der Prostitution – nach 2019 erneut ein historischer Höchstwert! Die tiefe Verurteilungsrate habe verschiedene Gründe, erklärt Anna Schmid, Koordinatorin bei Plateforme Traite: «Betroffene bezeichnen sich kaum je als Opfer von Menschenhandel und kennen ihre Rechte nicht. Und weil sie oft keinen legalen Aufenthaltsstatus haben, misstrauen sie der Polizei.» Tatsächlich komme es immer wieder vor, dass Behördenvertreter die Opferrechte nicht re­spektierten. Dabei besagt die Europäische Konvention gegen Menschenhandel klar: Wenn ein begründeter Verdacht auf Menschenhandel besteht, hat das Opfer Anrecht auf eine vorläufige Aufenthaltsbewilligung, eine sichere Unterkunft, psychologische und materielle Unterstützung, Beratung und medizinische Versorgung. Doch in der Praxis hapert es – auch wegen verbreiteter Mythen.

HEIKLE KONTROLLEN

Expertin Schmid sagt: «Viele glauben, Menschenhandel sei nur in der Sexarbeit ein Problem.» Tatsächlich passiere aber jeder dritte Fall ausserhalb der Prostitution. Besonders betroffen seien Beschäftigte in Privathaushalten, in der Gastronomie, in Nail-Studios, in der Landwirtschaft oder auf dem Bau. Das bestätigen auch Kontrollen durch Arbeitsin­spektorate. Aber auch da sieht Schmid noch Aufholbedarf: «Wenn Irreguläres festgestellt wird, kann eine Firma bestraft werden. Allerdings besteht das Risiko, dass wegen illegalen Aufenthalts auch Mitarbeitende angezeigt werden.» Nur selten würden solche Situationen als mögliche Fälle von Menschenhandel erkannt und die Betroffenen an eine Opferschutzstelle verwiesen.

Genau hier will die Unia jetzt ansetzen. Mit einer Informationskampagne sollen Mitglieder, Mitarbeitende und die paritätischen Kommissionen (Kontrollorgane von Arbeitgebern und Arbeitnehmenden) sensibilisiert werden. Als erste Gewerkschaft der Schweiz wird sie sich ausserdem an einem nationalen Aktionsplan gegen Menschenhandel beteiligen. Der dritte dieser Art befindet sich beim Bundesamt für Polizei gerade in Vorbereitung. Dazu Marie Saulnier Bloch, Unia-Fachsekretärin für Migration: «Menschenhandel ist eines der schrecklichsten Verbrechen überhaupt. Und er torpediert letztlich die Arbeitsbedingungen aller. Deshalb braucht es auch alle, um ihn zu bekämpfen.»

Kampf gegen Menschenhandel: Selber aktiv werden

WARNZEICHEN:

  • Miserable Arbeitsbedingungen: Dumpinglöhne, überlange Arbeits-tage, keine -Ruhetage, fehlende -Arbeitskleider und Schutzausrüstung, Misshandlungen
  • Prekäre Lebens- und Wohnbedingungen: Schlafen am Arbeitsort, in überfüllten Zimmern oder Massen-lagern, Isolation durch -fehlenden Kontakt zur Aussenwelt, mangelhafte Mahlzeiten, falsche -Versprechungen als Lockvogel für die Reise in die Schweiz
  • Hohe Verletzbarkeit: Armut, ungesicherter Aufenthaltsstatus, abgenommene Ausweispapiere, geschlechtsspezifische Abhängigkeiten, kein soziales Netz, Schulden beim Chef, mangelnde Sprachkenntnisse

HINSCHAUEN:

Haben Sie einen Verdacht? So handeln Sie richtig:

  • Zuerst eine spezialisierte, unabhängige Fachstelle oder die Unia informieren, sich beraten lassen (rebrand.ly/verdachtmelden)
  • Mit der betroffenen Person diskret und möglichst unbeobachtet in Kontakt treten
  • Willen des Opfers respektieren, nicht aufdringlich sein, wegen Gefahr der Retraumatisierung!
  • Vertrauen aufbauen, ermutigen, Kontakt zur Beratungsstelle vermitteln

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