Bundestagswahlen in Deutschland: Die vier grossen Überraschungen

Bundeskanzler Olaf Scholz? Einigermassen wahrscheinlich!

Michael Stötzel

Der Sieg der SPD und ihres Kandidaten Olaf Scholz fiel viel knapper aus als vorausgesagt. Er ist trotzdem grösser, als es die Prozentzahlen nahelegen.

VEREINIGTE SPD: Kanzlerkandidat Olaf Scholz (Mitte), umgeben von seinen Parteifreundinnen und -freunden. (Foto: Getty)

Drei Tage nach der Wahl setzt sich fort, was die letzten zwei Monate gekennzeichnet hat: CDU-Mann Armin Laschet stolpert von einem Fettnäpfchen ins nächste und kämpft einigermassen verzweifelt gegen das drohende Ende seiner politischen Karriere. Ob er noch lange durchhält, ist höchst fraglich.

SPD-Mann Olaf Scholz andererseits weiss seine Partei geschlossen hinter sich. Er bleibt äusserlich ruhig und bereitet sich professionell auf eine Machtübernahme im Kanzleramt vor. Dass er sie mit den Königsmachern der Grünen und dem aufgeplusterten FDP-Alleinherrscher Christian Lindner wird teilen müssen, scheint ihn nicht zu beunruhigen. Obgleich seine programmatischen Schwerpunkte bisher brüsk von Lindner abgelehnt werden.

SPD-Scholz will:

  • 12 Euro Mindestlohn
  • Keine Erhöhung des Rentenalters
  • Garantierte Mindestrenten
  • 2 Prozent der Landfläche für erneuerbare Energien
  • Leichte Steuererhöhungen für Reiche
  • CO2-neutrales Land bis 2045 (siehe Rubrik «Rosa Zukunft» unten).

FDP-Lindner dagegen will:

  • Zurück zur «schwarzen Null» im Staatshaushalt
  • Für den Klimaschutz sollen nach seiner Vorstellung Private sorgen, denen er dazu Steuersenkungen und Investitionsanreize anbieten will.

Die SPD ist nun in 12 der 16 Länder die stärkste Partei.

1. ÜBERRASCHUNG: ROTE LÄNDER

Die klare Mehrheit der Bevölkerung will lieber Scholz und die SPD im Kanzleramt. Ihnen spricht sie die grössere Kompetenz in entscheidenden Fragen – Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit, Bildung, Rente – zu. Das erklärt auch eine erste Überraschung: Der knappe 2-Prozent-Vorsprung reichte zusammen mit den Verlusten der CDU, um der SPD mehr als eine Verdoppelung ihrer direkt gewonnenen Mandate in den 299 Wahlkreisen zu bescheren. Bei den Zweitstimmen gewann sie 8 Bundesländer hinzu und ist nun in 12 der 16 Länder die stärkste Partei. Was allerdings nur eine Momentaufnahme ist, noch im Juni erhielt sie bei den letzten Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt gerade mal knapp 90’000 Stimmen, am Sonntag machten dort mehr als 380’000 Wählerinnen und Wähler das Kreuz bei ihr. Mit anderen Worten: Die Wahlentscheidungen wechseln schnell und fallen sehr kurzfristig aus, die traditionelle Stammwählerschaft spielt keine entscheidende Rolle mehr.

2. ÜBERRASCHUNG: DIE GRÜNEN

Das zweischneidige Ergebnis der Grünen, die ihr Ergebnis mit 14,8 Prozent und 5,8 Prozent Zugewinn als grossen Gewinn schönreden. Dabei unterschlagen sie, dass ihnen die Prognosen im Sommer noch mindestens 27 Prozent, zeitweise sogar Platz eins voraussagten. Wieso sind sie dermassen abgestürzt? Nur weil Spitzenfrau Annalena Baerbock ein, zwei läppische Fehler machte? Darüber verlieren sie bislang kein Wort.

3. ÜBERRASCHUNG: JUNGE FÜR FDP

Die vielleicht dickste Überraschung, mit der wirklich niemand gerechnet hat und die sich bisher niemand schlüssig erklären kann, ist der Erfolg Lindners und seiner neoliberalen Gefolgsleute von der FDP bei den Erst- und Jungwählerinnen und -wählern. Die Partei der Reichen, der Zahnärztinnen und Apotheker landet dort bei 20 bis 22 Prozent, ganz vorne und fast gleichauf mit den Grünen und deren Klimajugend.

4. ÜBERRASCHUNG: DIE LINKE

Die Linke ist gewaltig eingebrochen. Sie hatte angesichts der neu gewonnenen Zugkraft der SPD mit Verlusten rechnen müssen, traute aber den Prognosen, die ihr durchweg 7, mindestens 6 Prozent zutraute. Sie landete bei knapp 4,9 Prozent, das ist eine Halbierung der bisherigen 9,2 Prozent. Und kehrt jetzt mit nur 39 Abgeordneten in den Bundestag zurück. Immerhin macht sie nicht die 600’000 Wählenden für das Debakel verantwortlich, die von ihr zur SPD zogen.

EIN BISSCHEN WEIBLICHER

Weniger überraschend ist schliesslich der nur wenig gestiegene Anteil der Frauen unter den Abgeordneten. Er stieg aufgrund der Zugewinne von SPD und Grünen einerseits, der Verluste der Linken andererseits lediglich von 31 auf 35 Prozent.

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